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Sag Onkel - Psycho-Thriller (German Edition)

Sag Onkel - Psycho-Thriller (German Edition)

Titel: Sag Onkel - Psycho-Thriller (German Edition)
Autoren: Greg F. Gifune
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weiß, ist, dass das Identifizieren von Onkel Pauls Leiche bei der Polizei an diesem Abend genauso erschütternd war, wie ich es mir vorgestellt hatte. Es kam mir ebenso finster ironisch wie notwendig vor, dass mir diese Aufgabe übertragen wurde – denn die Vorstellung, dass er wirklich tot sein könnte, wäre, ohne seine leblosen Überreste mit eigenen Augen gesehen zu haben, unfassbar geblieben.
    Was ich anstelle dieser Überreste vor mir sah, waren die Suchtrupps, die vor so vielen Jahren die Wälder und Strände durchkämmt hatten. Leute in der Stadt, die sich zusammentaten, obwohl viele von ihnen nicht die geringste Vorstellung hatten, wer die Person war, die sie suchten; sie wussten nur, dass es um etwas ging, woran sie sich beteiligen mussten. Vielleicht versuchten die Leute, die den vermissten Jungen gar nicht kannten und mit den ganzen Ereignissen nichts zu tun hatten, durch diese Suche irgendwie mit einem größeren Teil der Menschlichkeit, der bisher außerhalb ihrer Reichweite lag, Verbindung aufzunehmen. Es war eine Zeit, in der die Leute in Gemeinden wie der unseren sich noch um die Menschen im Nachbarhaus oder in der Straße kümmerten – oder zumindest so taten –, weil ihre Freunde und Nachbarn und die Mehrzahl der übrigen Bürger in vieler Hinsicht uns alle ausmachten.
    Aus irgendeinem Grund erinnerte ich mich auch an die Beerdigung meiner Großmutter und wie klein ich damals war, als ich planlos in der Aussegnungshalle herumlief, während die Erwachsenen um mich herum weinten und hastig miteinander flüsterten. Ich erinnerte mich daran, wie ich Stunden später in der Kirche in der vorderen Sitzbank stand, als sie ihren Sarg den Gang hinunterschoben und ihn am Altar aufstellten. Beides war weiß verhüllt – eine trotzige Bekundung von Reinheit im Antlitz der Dunkelheit, oder vielleicht auch, weil im Tod ebenso viel Reinheit lag wie im Leben. Ich erinnerte mich an eine Frau, die in einem wunderschönen Sopran Here I am Lord sang. Ihr Gesang hallte durch die gewölbten Wände der kleinen Kirche wider und wühlte die Emotionen von jedem auf. Eine Erinnerung daran, dass meine Großmutter vorausgegangen war, an einen anderen Ort, an den wir alle ihr eines Tages folgen würden.
    Bei der Erinnerung an diesen Tag und an den Tag Jahre später, als all diese Leute so verzweifelt nach dem vermissten Jungen suchten, musste ich am meisten daran denken, dass für seine Familie, seine Freunde und Nachbarn das alles – also eine Identifizierung, ein Gottesdienst, eine Beerdigung – niemals stattfand, weil er, ob recht oder unrecht, niemals zurückgekehrt ist. Nicht zum Leben, nicht zum Sterben. Er blieb verschwunden.
    Als die Vergangenheit vor der Gegenwart verblasste, begrüßte mich ein übergewichtiger Kriminalbeamter mit grimmigem Gesicht am Eingang der Gerichtsmedizin, stellte sich mit einem Nicken und in diensteifrigem Ton vor und dankte mir für mein Kommen. Ohne weiteren Kommentar begleitete er mich durch das Foyer, vorbei an einer Reihe dunkler Büros, hinein in ein Labyrinth von Korridoren. Nach einer halben Ewigkeit erreichten wir den Raum, in dem der Leichnam aufbewahrt wurde.
    Der Kriminalbeamte zögerte, die Hand an der Tür. »Bereit?«
    »Nein«, sagte ich.
    Wann immer mein Telefon in der Nacht klingelt, muss ich wieder an ihn denken.
    Ich kann mich an keine Zeit erinnern, zu der ich Onkel Paul nicht nahestand. Er war der einzige Bruder meiner Mutter, ein Jahr älter als sie, und weil mein Vater nicht da war, von Anfang an integraler Bestandteil unseres Lebens. Mein Vater war Versicherungsvertreter, und obwohl er uns erst verließ, als ich fünf war, sind meine Erinnerungen an ihn bestenfalls vage. Wenn ich ihn mir vorstelle, sehe ich einen großen, schlaksigen Mann in einem billigen, verknitterten Anzug vor mir, einen Drink in der einen Hand und eine Zigarette in der anderen. Ich kann mich erinnern, bei ihm zu sein, auf dem Boden zu sitzen und zu spielen oder in einem meiner Malbücher zu malen, während er in seinem Sessel saß, aber ich kann mich nicht erinnern, je mit dem Mann geredet zu haben. Mehr Pensionsgast als Elternteil, nutzte er unser Zuhause selten als etwas anderes als einen Platz zum Schlafen. Der Umstand, dass seine Frau und seine Kinder dort wohnten, schien für ihn irgendwie bedeutungslos zu sein. Jahrelang habe ich versucht, mich an den Klang seiner Stimme zu erinnern, aber sie ist mir immer entglitten, und am Ende war er wenig mehr als ein Phantom.
    Meine Mutter hatte
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