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Landleben

Landleben

Titel: Landleben
Autoren: John Updike
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I Träum weiter, guter Owen
     
     
     
    Seit langem schon wacht seine Frau früh auf, um fünf oder
um halb sechs. Aufgrund ihres inneren Rhythmus, manch-
mal nicht im Einklang mit dem Owens, erwacht Julia voller
Zärtlichkeit für ihn, ihren Gefährten auf des Bettes reglo-
ser Reise durch die Nacht unvollkommenen Schlafs. Sie
umarmt ihn und erklärt, ungeachtet seiner Proteste, dass
er noch schlafe, mit leiser, aber unerbittlicher Stimme, wie
sehr sie ihn liebe, wie froh sie sei über ihre Ehe. «Ich bin
so glücklich mit dir.»
    Und das nach fünfundzwanzig Jahren des Zusammen
lebens. Er ist siebzig, sie fünfundsechzig; ihre Verkündi-
gung, für sie selber von Neuigkeitswert, versetzt ihm ei-
nen kleinen Stich: Wie könnte es anders sein? Nach all
den eigenen Kümmernissen und dem Schmerz, den sie
anderen zugefügt haben. Sie haben die Furt durchquert,
und jetzt sind sie hier, auf der anderen Seite. Sie zupft an
ihm, sie dreht seinen Kopf, damit sie ihn auf den Mund
küssen kann. Doch seine Lippen sind gedunsen und taub
vom Schlaf, und in diesem anästhetisierten Zustand, die
Nerven noch nicht wieder geordnet, hat er das Gefühl,
sie wolle ihn ersticken; sie streichelt ihn, wie man früher
sagte, gegen den Strich. Nach einigen weiteren Minuten
liebesbetörten Gerangels, bei dem er sich starrköpfig ver-
weigert und sich die Möglichkeit bewahrt, zu seinem kost-
baren Traum zurückzukehren, gibt Julia nach und erhebt        sich vom Bett, und Owen streckt sich dankbar auf der von
    ihr geräumten Seite aus und sinkt für ein, zwei weitere
Stunden in Schlaf.
    Eines Morgens träumt er in dieser letzten, gestohle
nen Stunde, dass er in einem Haus, das er nicht kennt (es
wirkt schäbig, öffentlich, wie eine Pension oder ein Kran
kenhaus), von gesichtslosen Amtspersonen in einen Raum
geführt wird, wo auf einem Bett wie dem ihren – zwei
aneinander gekoppelte Einzelbetten, die ein großes Bett
ergeben – ein Mann, ein junger Mann, der Glätte seines
blonden Körpers mit dem straffen Hintern nach zu urtei
len, auf dem Körper seiner Frau liegt, als bemühte er sich
um Wiederbelebung oder (was keineswegs das Gleiche ist)
um Verbergen. Als sich dieser Fremde auf die stumme An
weisung der begleitenden Amtspersonen hin erhebt, wird
der Körper von Owens Frau, auch er nackt, auf dem Rücken
liegend, sichtbar: der weiße entspannte Bauch, die Brüste,
flach von der Schwerkraft, ihr teures, vertrautes Geschlecht
im krausen Bart aus Fell. Sie ist tot, Suizid. Sie hat den Aus
weg aus ihrem Schmerz gefunden. Owen denkt: Hätte ich
mich nicht in ihr Leben eingemischt, wäre sie noch am Leben. Er
sehnt sich danach, sie zu umarmen und ihr wieder Leben
einzuhauchen und das Gift, als das seine Existenz auf die
ihre gewirkt hat, wieder in sich hineinzusaugen.
    Langsam, widerwillig, so wie man seine Aufmerksamkeit
von einem noch ungelösten Rätsel abwendet, wacht er auf,
und natürlich ist sie nicht tot; sie ist unten und verbreitet
den Geruch von Kaffee und die Geräusche einer morgend
lichen Nachrichtensendung: mehrere einander neckende
Stimmen, männliche und weibliche. Verkehr und Wetter,
beides mag Julia, nie versiegt ihr Interesse daran, an die
sen chronischen täglichen Unwägbarkeiten, obwohl sie            seit drei Jahren nicht mehr jeden Tag nach Boston fährt. Er
kann ihre blauen Gummi-Flip-Flops hören, die zu tragen
sie nicht aufgibt, als wäre sie auf immer jung und für den
Strand gekleidet, sie klatschen in der Küche hin und her,
vom Kühlschrank zur Arbeitsfläche zum Frühstückstisch,
und dann zum Spülbecken und Abfallzerkleinerer und zur
Spülmaschine, und weiter ins Esszimmer, wo sie ihre Pflan
zen gießt. Sie liebt ihre Pflanzen, vielleicht mit demselben
Gefühlsorgan, mit dem sie das Wetter liebt. Das Geräusch,
das die Flip-Flops machen, und die Gefahr, die sie für ihre
Trittsicherheit bedeuten – auf der Treppe rutscht sie im-
mer wieder aus –, irritieren ihn, aber er mag den Anblick
ihrer nackten Zehen, leicht gespreizt wie die Zehen an hart
arbeitenden asiatischen Füßen, die kleinen Gelenke weiß
von der Anstrengung, die Flip-Flops anzubehalten. Sie ist
eine zierliche Brünette mit einem kompakten Körper, und
ihre Haut nimmt, anders als bei seiner ersten Frau, eine
gesunde, gleichmäßige Bräunung an.
    An manchen Tagen findet er, halb erregt, nur wieder in
den Schlaf, wenn er an eine der anderen Frauen denkt –
Alissa oder Vanessa oder Karen oder Faye –, die wie er in
den
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