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Russisches Poker

Russisches Poker

Titel: Russisches Poker
Autoren: B Akunin
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»Lausejungen« und »Rechtsbrecher«. Ungesäumt reichte der Chef seinen Abschied ein, welchselben er jedoch nicht erhielt, denn als Fürst Dolgorukoi wieder einen kühlen Kopf hatte, begriff er, welche Peinlichkeiten ihm der Beamte für Sonderaufträge durch seine Umsicht erspart hatte. Die Aussagen des Pikbuben in der Sache Lord Pitsbrook würden den Fürsten lächerlich gemacht haben, und nicht nur in den Augen der Moskowiter, sondern auch in den höchsten Sphären, wo der widerborstige Statthalter nicht wenige Feinde hatte, die nur auf eine Schlappe lauerten. Und in eine lächerliche Lage zu geraten, das war noch schlimmer als eine Schlappe, namentlich wenn man schon sechsundsiebzig war und einen beneidenswerten Posten innehatte.
    Der Generalgouverneur kam denn auch in den Seitenflügel in der Kleinen Nikitskaja, bat Fandorin um Verzeihung und gab ihn sogar für den Wladimir-Orden ein, natürlich nicht wegen des Pikbuben, sondern für »vorbildlichen Diensteifer und besondere Bemühungen«. Von der Freigebigkeit des Fürstenfiel auch für Anissi eine stattliche Belohnung ab. Sie reichte aus, sich in der neuen Wohnung einzurichten, Sonja zu verwöhnen und eine komplette Uniformausrüstung anzuschaffen. Aus dem einfachen Anissi war ein »Wohlgeboren« geworden, der Kollegienregistrator Anissi Pitirimowitsch Tulpow.
    So erschien er denn zur Gerichtsverhandlung in seiner nagelneuen, zum erstenmal angelegten Sommeruniform des Zivilbeamten. Bis zum Sommer war es zwar noch eine Weile hin, aber Anissi machte in dem weißen Uniformrock mit den goldgeränderten Kragenspiegeln doch allerhand her.
    Als die Angeklagte hereingeführt wurde, fiel ihr sogleich die weiße Montur ins Auge, sie lächelte Anissi traurig zu wie einem alten Bekannten und nahm gesenkten Kopfes Platz. Ihr Haar, noch nicht richtig nachgewachsen, war im Nacken zu einem kleinen Dutt gesteckt. Mimotschka (so nannte Anissi sie für sich) trug ein braunes Kleid, in dem sie wie eine Gymnasiastin aussah, die vor dem gestrengen pädagogischen Rat zu erscheinen hat.
    Als Anissi sah, daß die Geschworenen das bescheidene Mädchen mitfühlend betrachteten, schöpfte er ein wenig Mut. Vielleicht fiel das Urteil nicht gar so hart aus?
    Allein, die Rede des Staatsanwalts stürzte ihn in Entsetzen. Der Ankläger, ein rotwangiger Ehrgeizling und gnadenloser Karrierist, zeichnete von Mimi ein Bild in den scheußlichsten Farben, beschrieb ausführlich die zynische Verwerflichkeit der »wohltätigen Lotterie« und forderte für die Angeklagte drei Jahre Zwangsarbeit plus fünf Jahre anschließender Ansiedlung in Sibirien.
    Der versoffene Knattermime, der in der Lotterie den Vorsitzenden gespielt hatte, wurde vom Gericht wegen geringfügiger Schuld freigesprochen und trat als Zeuge der Anklage auf. Es sah so aus, als sollte Mimi allein für alle anderen büßen. Sie legte das goldblonde Köpfchen auf die gekreuzten Arme und weinte lautlos.
    Da faßte Anissi einen Entschluß. Er würde ihr nach Sibirien folgen, sich eine Stelle suchen und die Ärmste mit seiner Treue und Liebe seelisch stärken. Später, wenn man sie vorfristig freiließe, würden sie heiraten, und dann … Dann würde alles sehr schön.
    Und Sonja? fragte sein Gewissen. Willst du deine leibliche Schwester ins Armenhaus geben, die Behinderte, die niemand braucht?
    Nein, antwortete Anissi seinem Gewissen. Ich werde mich Erast Petrowitsch zu Füßen werfen, er ist ein edler Mensch, er wird es verstehen.
    Mit Sonja war einstweilen alles ganz gut geregelt. Fandorins neues Stubenmädchen, die vollbusige Palascha, hatte das arme Mädchen sogar ins Herz geschlossen. Sie versorgte Sonja, paßte auf sie auf, flocht ihr die Zöpfe. Sonja konnte sogar schon ein paar Wörter sprechen: »Schleife«, »Kamm«. Der Chef würde das Waisenkind bestimmt nicht im Stich lassen, und später, sobald er sich etabliert hatte, würde Anissi sie zu sich nehmen.
    Jetzt erteilte der Richter dem Verteidiger das Wort, und Anissi blickte den Rechtsanwalt hoffnungsvoll an.
    Der war, ehrlich gesagt, recht häßlich: schwarze Haare, krummer Rücken, lange Schniefnase. Es hieß, ein Unbekannterhabe ihn bei der berühmten Petersburger Kanzlei »Rubinstein und Rubinstein« engagiert, und er gelte als Koryphäe für Kriminalfälle. Aber sein Aussehen nahm nicht eben für ihn ein. Als er vortrat, nieste er erst mal lautstark in sein rosarotes Schnupftuch, gab sogar einen Rülpser von sich und flößte Anissi ein ungutes Vorgefühl ein. Der
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