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Russisches Poker

Russisches Poker

Titel: Russisches Poker
Autoren: B Akunin
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Der »Pikbube« außer Rand und Band
    Auf der ganzen weiten Welt gab es keinen unglücklicheren Menschen als Anissi Tulpow. Na, vielleicht irgendwo in Schwarzafrika oder Patagonien, aber in geringerer Entfernung kaum.
    Urteilen Sie selbst. Erstens der Vorname. Haben Sie schon mal gehört, daß ein vornehmer Mann, Kammerjunker oder wenigstens Abteilungsvorsteher, Anissi geheißen hätte? Der Name roch ja förmlich nach ewigem Lämpchen, nach Pfaffentum.
    Und der Nachname! Zum Totlachen. Diesen unglückseligen Namen hatte der Urgroßvater, ein dörflicher Küster, seiner Familie eingebrockt. Als Anissis Ahnherr das geistliche Seminarium besuchte, war der Vater Rektor auf die Idee verfallen, die mißtönenden Namen der künftigen Kirchendiener durch Gott wohlgefällige zu ersetzen. Um der Einfachheit und Bequemlichkeit willen benannte er einen Jahrgang der Seminaristen nach Kirchenfeiertagen, einen anderen nach Früchten, und der Jahrgang des Urgroßvaters hatte das Blumenjahr erwischt: Einer hieß fortan Hyanzinthow, einer Balsaminow, einer Ranunkelow. Tulpow ging ja noch an, das war besser als womöglich Pusteblumow.
    Aber der Name war noch nicht das Schlimmste. Erst dasAussehen! Schon die Ohren: Sie starrten nach den Seiten wie Nachttopfhenkel. Wenn er sie mit der Schirmmütze andrückte, befreiten sie sich eigenwillig und standen ab, als wollten sie der Mütze von unten Halt geben, sie waren gar zu federnd und knorpelig.
    Früher hatte Anissi manchmal lange vor dem Spiegel gestanden, hatte sich hin und her gedreht und die Haare, die er extra lang wachsen ließ, nach beiden Seiten gekämmt, um seine abstehenden Ohren zu verdecken. Und das half auch, zumindest eine Zeitlang. Als jedoch vor drei Jahren Pickel sein ganzes Gesicht übersäten, hatte Tulpow den Spiegel auf den Dachboden geräumt, denn er konnte seine widerliche Visage einfach nicht mehr sehen.
    Er stand immer vor Tau und Tag auf, im Winter sogar zu nachtschlafender Zeit, denn er hatte einen weiten Weg zu seinem Dienst. Das Häuschen, das er von seinem Vater, dem Diakon, geerbt hatte, stand auf dem Nutzland des Pokrowski-Klosters, unweit des Spasskaja-Tors. Durch die Pustaja-Straße, über die Taganka, vorbei am verrufenen Chitrowka-Viertel hatte er zur Gendarmerieverwaltung eine gute Stunde stramm zu gehen. Und wenn, wie heute, leichter Frost herrschte und Glatteis war, dauerte es noch länger, denn in den verschlissenen Halbstiefeln und dem dünnen Mäntelchen kam er nicht gut voran. Die Zähne klapperten, und er dachte an bessere Zeiten zurück, an die sorglose Jugend, an seine Mutter, Gott hab sie selig.
    Ein Jahr zuvor, als Anissi bei der Geheimpolizei anfing, war es viel leichter gewesen. Sein Gehalt betrug achtzehn Rubel plus Überstundengeld plus Nachtzuschläge, undmanchmal kamen sogar noch Reisespesen dazu. So läpperten sich in manchen Monaten bis zu fünfunddreißig Rubelchen zusammen. Aber Tulpow, der Unglücksrabe, konnte sich auf dem einträglichen Posten nicht halten. Oberstleutnant Swertschinski persönlich erklärte ihn zu einem Versager und einem Blindgänger. Als erstes wurde ihm vorgeworfen, daß er seinen Beobachtungsposten verlassen hatte (und wie hätte er ihn nicht verlassen sollen, um kurz nach Hause zu laufen, wo seine Schwester Sonja seit dem Morgen noch nichts zu essen bekommen hatte?). Doch am schlimmsten war, daß er eine gefährliche Revolutionärin entwischen ließ. Während eines Einsatzes zwecks Aufhebung einer konspirativen Wohnung stand er auf dem Hinterhof, nur für alle Fälle, zur Absicherung, denn da er noch sehr jung war, hatten sie ihn zur Festnahme nicht eingesetzt. Und da mußte es geschehen, daß den Verhaftern, gewiegten Bullen, Meistern ihres Fachs, eine kleine Studentin entschlüpfte. Anissi sah ein Fräulein mit Brille auf sich zugelaufen kommen, das Gesicht verstört, verzweifelt. Er rief »Halt!«, konnte sich aber nicht entschließen zuzugreifen – gar zu dünne Ärmchen hatte das Fräulein. Er stand da wie ein Ölgötze und glotzte ihr hinterher, stieß nicht mal in seine Pfeife.
    Für dieses himmelschreiende Versäumnis wollten sie ihn gänzlich aus dem Dienst kanten, aber sein Vorgesetzter erbarmte sich des Waisenjungen und degradierte ihn nur zum Botengänger. Damit hatte Anissi nun einen winzigen Posten inne, geradezu schmählich für einen gebildeten Menschen, der fünf Klassen der Realschule absolviert hatte. Vorallem gab es da keinerlei Hoffnung. Nun würde er sein Leben lang als armseliger Bote
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