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Russisches Poker

Russisches Poker

Titel: Russisches Poker
Autoren: B Akunin
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herumlaufen müssen, ohne einen besseren Rang erreichen zu können.
    Mit zwanzig sich selbst aufgeben zu müssen ist für jedermann bitter, und das hat nicht einmal was mit Ehrgeiz zu tun. Aber mit zwölfeinhalb Rubeln auszukommen, das versuche mal einer. Anissi selbst brauchte ja nicht viel, aber wie sollte er Sonja erklären, daß die Karriere ihres jüngeren Bruders gescheitert war? Sie wollte Butter essen und Quark, und auch mit was Süßem mußte er sie dann und wann verwöhnen. Und das Feuerholz kostete heuer drei Rubel das Klafter. Sonja war zwar schwachsinnig, doch wenn sie fror, stieß sie unartikulierte Laute aus und weinte.
    Anissi, bevor er aus dem Hause rannte, wechselte der Schwester noch rasch das nasse Zeug. Sie machte die Ferkeläuglein einen Spalt auf, lächelte dem Bruder verschlafen zu und lispelte: »Nissi, Nissi!«
    »Bleib ruhig liegen, Dummchen, mach keinen Blödsinn«, befahl Anissi ihr mit gespielter Strenge, während er den schweren schlafheißen Körper umdrehte. Er legte die vereinbarte Zehnkopekenmünze auf den Tisch, für die Nachbarin Sytschicha, die nach Sonja zu sehen pflegte. Dann kaute er hastig einen harten Kringel, trank kalte Milch und eilte hinaus ins Dunkle, ins Schneetreiben.
    Während Anissi über die verschneite Ödfläche zur Taganka lief und aller naselang ausglitt, tat er sich selber leid. Er war arm, häßlich und unbegabt, und obendrein hing ihm Sonja als lebenslange Last am Halse. Er war dazu verurteilt,weder Frau und Kinder noch ein gemütliches Heim zu haben.
    Als er an der Kirche Aller Leidtragenden vorbeikam, bekreuzigte er sich wie gewohnt vor dem ewigen Lämpchen der Gottesmutter-Ikone. Diese Ikone hatte er schon als Kind geliebt, sie hing nicht im Warmen und Trockenen, sondern an der Außenwand, jeder Witterung ausgesetzt, nur ein kleines Schutzdach beschirmte sie gegen Regen und Schnee, und weiter oben war ein Holzkreuz. Das Flämmchen ging niemals aus, es brannte in einem Glas und war schon von weitem zu sehen. Das war wohltuend, zumal bei Kälte, Finsternis und Windgeheul.
    Aber was war das Weiße da auf dem Kreuz?
    Eine weiße Taube! Saß da, putzte mit dem Schnabel ihr Gefieder, und der Sturm machte ihr nichts aus. Anissis Mutter selig hatte sich mit Vorzeichen bestens ausgekannt, und von ihr wußte er, daß eine weiße Taube auf einem Kreuz Glück und eine unerwartete Freude verheißt. Nur, wo sollte das Glück herkommen?
    Der Schneesturm fegte über die Erde. Es war scheußlich kalt.
    Aber der Arbeitstag fing wirklich gar nicht so schlecht an. Der Kollegienregistrator Jegor Semjonowitsch, der die Botenmeisterei leitete, warf einen Blick auf Anissis Mäntelchen, schüttelte sein graues Haupt und erteilte ihm einen guten, weil warmen Auftrag. Tulpow brauchte nicht in alle Ecken und Enden der riesigen, winddurchheulten Stadt zu laufen, sondern nur einen Aktendeckel mit Berichten undDokumenten zu Herrn Hofrat Erast Petrowitsch Fandorin zu bringen, dem Beamten für Sonderaufträge bei Seiner Erlaucht dem Generalgouverneur. Hinzubringen und zu warten, ob der Herr Hofrat nicht eine Rückantwort mitzugeben habe.
    Das war nicht weiter schwierig. Anissi schöpfte Mut und schaffte die Akte in Windeseile hin, er kam nicht einmal dazu zu frieren. Herr Fandorin logierte gleich um die Ecke, in der Kleinen Nikitskaja, in einem eigenen Seitenflügel auf dem Besitz des Barons von Ewert-Kolokolzew.
    Anissi vergötterte seit langem Herrn Fandorin. Von weitem, zaghaft, ehrfurchtsvoll, ohne jede Hoffnung, von dem großen Mann jemals wahrgenommen zu werden. Der Hofrat Fandorin genoß in der Gendarmerieverwaltung eine besondere Reputation, obwohl er einer anderen Behörde angehörte. Seine Exzellenz der Moskauer Polizeipräsident Jefim Baranow, der im Range eines Generalleutnants stand, fand gleichwohl nichts Anstößiges dabei, den Beamten für Sonderaufträge um einen vertraulichen Rat anzugehen oder ihn sogar um eine Protektion zu ersuchen.
    Kein Wunder, denn jeder, der sich ein bißchen in der großen Moskauer Politik auskannte, wußte, daß das Oberhaupt der Residenzstadt, Fürst Wladimir Andrejewitsch Dolgorukoi, den Hofrat schätzte und auf seine Meinung hörte. So mancherlei wurde über den Herrn Fandorin gemunkelt, zum Beispiel daß er über die besondere Gabe verfüge, jeden Menschen zu durchschauen und jedes noch so geheimnisvolle Geheimnis blitzschnell zu enträtseln.
    Der Hofrat Fandorin war das Auge des Generalgouverneursin allen geheimen Moskauer Angelegenheiten,
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