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Notbremse

Notbremse

Titel: Notbremse
Autoren: M Bomm
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    Es war einer dieser trüben Tage, an denen Ulm im dichten Nebel des Donautals lag. Der Münsterturm war kaum zu sehen. Sanfter Nieselregen ließ die Straßen glänzen und die Kleider klamm werden. Obwohl in den Pflanzkübeln der Fußgängerzone die bunte Sommerpracht in herrlichster Blüte stand, schien es November zu sein. Doch die Ulmer nahmen diesen Nebel so gelassen hin, wie es die Londoner mit dem Regen taten. Denn hier an den sanften Südhängen der Schwäbischen Alb kam es oft genug vor, dass die Sonnenwärme vergeblich gegen die Feuchtigkeit ankämpfte, die die Donau mit sich brachte.
    An diesem Julivormittag war es besonders schlimm. In den Radionachrichten hatte es geheißen, weite Teile des Landes könnten sich über strahlenden Sonnenschein freuen. Nur südlich der Alb hielten sich hartnäckig vereinzelte Nebelbänke.
    Die meisten Menschen, die am Bahnhof auf den 8.51-Uhr-ICE nach Dortmund warteten, waren auf dieses raue Klima nicht eingestellt. Sie suchten unter der Überdachung auf Bahnsteig 1 beim Empfangsgebäude Schutz. Weiter drüben fuhr gerade ein Regionalexpress aus Sigmaringen ein; jener aus Oberstdorf, so war den Ansagen zu entnehmen, hatte zehn Minuten Verspätung.
    Der Mann, der vor dem Glaskasten stand und die Reihenfolge der ICE-Waggons studierte, strich sich die Feuchte von der beigen Freizeitjacke. Sein Interesse galt nur vordergründig der skizzierten Darstellung eines Zuges. In Wirklichkeit ließ er seinen Blick unauffällig über die knapp 50 Menschen streichen, die sich weit über den Bahnsteig verteilt hatten. Eigentlich interessierte ihn nur eine einzige Person – dieser äußerst gepflegt erscheinende Mann, Mitte 30, in Nadelstreifenanzug und Sommermantel. Er hatte einen Aktenkoffer mit irgendwelchen bunten Aufklebern in der rechten Hand. Er stand einen Steinwurf entfernt direkt unter der Uhr, deren Sekundenzeiger gerade wieder eine Umrundung beendete. In vier Minuten sollte der ICE einfahren, wenn er denn pünktlich war. Der heimliche Beobachter wusste, dass der andere dann in die erste Klasse steigen würde – wie er selbst auch. Sie hatten sogar dasselbe Abteil gebucht.
    Er drehte sich wieder zum Gleis und schlenderte langsam an der durchgezogenen weißen Linie entlang, deren Überschreiten aus Sicherheitsgründen verboten war. Vorbei an einer Gruppe diskutierender Frauen näherte er sich langsam seiner Zielperson. Er kannte diesen Mann jetzt seit über einem Monat: Kai-Uwe Horschak, 37 Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder. Seit er ihn observierte, hatte er eine Menge Fakten und Daten über ihn zusammengetragen. Er wusste, welche Schule die beiden Töchter besuchten, wie die Lehrer hießen und dass er nicht selbst zu den Elternabenden ging, sondern die Ehefrau schickte. Horschak joggte frühmorgens und traf sich alle zwei Wochen immer donnerstags mit seinen Freunden in einem Lokal im Ulmer Fischerviertel. Auch die meisten Teilnehmer an dieser gemütlichen Runde hatte er inzwischen identifiziert. Drei Ärzte, ein Finanzmakler und ein Apotheker. Er wusste auch, dass dieser Mann einen weiten Aktionsradius hatte, nämlich den gesamten deutschsprachigen Raum bis hinunter nach Bozen in Südtirol.
    Heute würde er nach Mannheim fahren. Doch er selbst hatte nicht vor, die gesamte Strecke mitzureisen. Sein Ticket galt nur bis Stuttgart. Das musste reichen.
     
    »Also Sylvia, ich muss schon sagen …« Die Stimme des Mannes klang energisch und war dazu angetan, jeglichen Widerspruch im Keime zu ersticken. Sylvia Ringeltaube hatte sich an diesen Ton gewöhnt. Seit sie sich duzten, ihr Chef und sie, war das Verhältnis zwischen ihnen ohnehin nicht mehr förmlich. Viel zu viel war inzwischen geschehen. Insgeheim wünschte sie sich, sie würden sich wieder siezen. Doch abgesehen davon, dass es albern gewesen wäre, hätten sie sich vermutlich auch nicht mehr an diese Anrede gewöhnen können. Sie wandte sich gelassen und mit gespielter Gleichgültigkeit von ihrem Bildschirm ab und machte mit dem Bürostuhl eine halbe Drehung.
    »Wie oft soll ich dir eigentlich noch sagen, dass mir die Art, wie du die Briefe gestaltest, nicht mehr gefällt«, fuhr der Mittfünfziger leicht irritiert, aber gereizt fort. Er war kein Mann der lauten Töne, doch dafür wählte er die Worte so pointiert, dass sie in Verbindung mit seiner geschliffenen Rhetorik ihre Wirkung nie verfehlten. Sylvia, Ende 20 und eigentlich ziemlich selbstbewusst, genoss seit einigen Wochen das Gefühl der
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