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Notbremse

Notbremse

Titel: Notbremse
Autoren: M Bomm
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büßen. Ja, es würde für ihn eines nicht allzu fernen Tages ein böses Erwachen geben. Und dafür war bereits alles bestens eingefädelt. Sylvia holte tief Luft, grinste in sich hinein und nahm sich vor, ihren Chef von Tag zu Tag mehr zu verunsichern. Ihre Position war stark. Unheimlich stark.

2
    Der aus zwei gekoppelten Zügen bestehende ICE fuhr pünktlich ein und der Waggon Nummer 37 mit der ersten Klasse war der allerletzte. Er kam, wie geplant, vor ihm zum Stehen. Kai-Uwe Horschak, dessen heller Sommermantel nicht zugeknöpft war und im Wind flatterte, strebte der offenen Wagentür zu, während ihm sein Beschatter mit Abstand folgte. Wenig später saßen sie beide im einzigen Vierpersonenabteil, das es gab. Die beiden anderen wiesen jeweils sechs Plätze auf. Horschak hatte den Fensterplatz in Fahrtrichtung rechts eingenommen und sich auf seinem Ticket noch mal vergewissert, dass dies korrekt war. Seinen Aktenkoffer legte er auf den freien Platz neben sich. Der Verfolger hatte sich mit einem knappen »Hallo« ihm gegenüber gesetzt und vergrub die Hände in der Freizeitjacke, während er interessiert zum Bahnsteig hinausblickte. Er bemerkte jedoch die Verunsicherung seines Gegenübers. Vielleicht hatte der Kerl Lunte gerochen? Immerhin waren sie sich vor zwei Wochen schon einmal auf ähnliche Weise nahegekommen. Aber das spielte jetzt auch gar keine Rolle mehr. Denn die Zeit war reif, das Versteckspiel aufzugeben. Und nichts eignete sich dafür besser als eine unverfängliche Fahrt mit der Eisenbahn. In so einem Abteil der ersten Klasse konnte man ungestört reden und davon ausgehen, dass es niemandem gelungen war, ausgerechnet hier eine Wanze zu platzieren. Außerdem, das hatte er schließlich selbst eingefädelt, war sichergestellt, dass bis Stuttgart kein weiterer Passagier dazukommen konnte. Und falls doch noch jemand fragen sollte, ob die reservierten Plätze frei seien, würde er das verneinen und auf Geschäftsfreunde verweisen, die sich gerade im Bordbistro befänden.
    Er spürte die unangenehmen Blicke Horschaks. Doch er zwang sich, nicht zu ihm hinüberzusehen und stattdessen seine ganze Konzentration auf den leeren Bahnsteig zu richten. Als ob ihn der andere nichts anginge. Erst wenn der Zug Ulm verließ, würde er ihn ansprechen. Aber trotz dieser selbst auferlegten Disziplin schweiften seine Augen immer wieder zu dem Mann hinüber. Horschak deutete ein Lächeln an. Ein überhebliches Lächeln, wie der Verfolger es einschätzte. Überheblich und beinahe mitleidig.
    Über den Bahnsteiglautsprecher wurde die Abfahrt des Intercityexpresszuges nach Dortmund angekündigt. Sekunden später setzte sich der Zug sanft in Bewegung. Er glitt über die Weichen und Kreuzungen des Bahnhofsbereichs, nahm rasch an Fahrt auf und gewann an dem aufsteigenden Hang sogleich an Höhe. Häuser und Fabrikanlagen, denen der dichte Nebel weiche Konturen bescherte, tauchten aus dem undurchdringlichen Weiß auf und waren kurz darauf wieder verschwunden. Auf seinem Weg Richtung Stuttgart musste der ICE die Schwäbische Alb überwinden, die hier zwischen Ulm und Geislingen gerade mal 30 Kilometer breit war. Als diese Bahnstrecke vor rund 160 Jahren gebaut wurde, galt sie als grandiose bautechnische Leistung. Auch wenn es heute großspurig klingen mochte, war es doch die erste Gebirgsüberquerung einer Eisenbahn überhaupt. Aber der Fortschritt von damals wurde bald von neuen Technologien eingeholt. Längst war den Bahnmanagern die Alb-Überquerung mit ihren Steilstrecken und den engen Kurvenradien ein Dorn im Auge. Denn die topografischen Gegebenheiten machten es notwendig, dass der ICE bis auf 70 km/h abgebremst werden musste – ein aus heutiger Sicht unerträglicher Zeitverlust. Schließlich dachten die Bahnchefs nicht mehr in regionalen Dimensionen, sondern global. Von einer wichtigen Magistrale war die Rede, die Paris mit Budapest verbinden sollte. Und da war kein Platz mehr für Langsamfahrstrecken oder den lokalen Forderungen nach möglichst vielen Haltepunkten. Hartmut Mehdorn, oberster Eisenbahner dieser Republik, hatte schon vor Jahren dargelegt, dass die Zeiten der beschaulichen Schwäbischen Eisenbahn vorbei waren: Ein Zug könne schließlich nicht an jeder Milchkanne halten, hatte er sogar im Hinblick auf Mannheim gesagt. Das war im Übrigen noch vornehm ausgedrückt. Im Schwäbischen pflegte man zu sagen: »Nicht an jeder Miste.« Schon jetzt hielt der ICE auf den 90 Kilometern zwischen Ulm und Stuttgart kein
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