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Der pfeifende Mörder

Der pfeifende Mörder

Titel: Der pfeifende Mörder
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Nebel – Nebel – Nebel –
    Das flache Land der holländischen Küste ist im Nebel ein großer, endlos wirkender milchiger Fleck. Die nassen Bäume scheinen sich in ihm aufzulösen. Über die Deiche, vom Meer her, quellen die dicken Schwaden über die Straßen, Häuser, Wege, Gärten, Gräben und Felder.
    Selbst wenn man auf den Deichen steht, sieht man das Meer nicht mehr. Terndard, Holwerd, Ferwerd, St. Jakobi und Sexbierum, die kleinen Fischerstädte am westfriesischen Strand, liegen verborgen hinter den wallenden Schleiern der Feuchtigkeit.
    Von den wenigen Bäumen tropft es träge. In den Vorstädten der Stadt Leeuwarden brennen schon die Laternen; ihr Schein ergibt nur einen hellen Fleck, den der Nebel schon nach wenigen Schritten wieder verschluckt. Naß und Glatt ist der Boden, wie mit Wachs überzogen.
    Ein ekelhafter Abend.
    Ruth Kappel lehnt sich an eine der Laternen und blickt auf die kleine runde Uhr an ihrem Handgelenk. Dann lauscht sie in den Nebel hinein und zieht fröstelnd die Schultern zusammen. Ein hellgrauer Wollmantel umhüllt ihre hohe, schlanke Gestalt. Unter einer grauen Baskenmütze quellen lange blonde Haare hervor.
    Er kommt nicht, denkt sie enttäuscht. Und er war so nett zu mir … vor vier Tagen im ›Astoria‹, einem der Kinos Leeuwardens.
    Er saß neben ihr in der Reihe und bot ihr von seiner Schokolade an; er plauderte nach der Vorstellung noch ein wenig mit ihr und bat sie mit einer fast jünglingshaften Scheu um ein Wiedersehen.
    Nun steht sie hier an der Laterne, wo man sich treffen wollte, und der Nebel zerstört die Hoffnung auf einen schönen, glücklichen Abend.
    Ruth Kappel geht ein wenig hin und her. Ihre hohen Absätze klappern auf dem Pflaster. Aber es ist, als prallten die Laute gegen eine Wand aus Watte … sie werden von der grauweißen Masse verschluckt.
    Vielleicht eine falsche Laterne? denkt Ruth Kappel. Ihre Augen suchen. Dort … und dort … und da hinten … da sind helle Flecke … andere Laternen … viele Laternen, deren Aufgabe es ist, diese stille Gegend am Rand der Stadt zu erhellen.
    Ruth bleibt stehen, ein wenig vorgebeugt. Ihre Augen haben die stille Sehnsucht verloren, die in ihnen lag, als sie zu diesem Treffpunkt eilte … sofort vom Büro aus, denn es war ihr nicht mehr viel Zeit geblieben, wenn sie den netten Mann nicht warten lassen wollte.
    »Hallo!« ruft sie in den Nebel hinein. »Hallo, wo sind Sie?« Dann lauscht sie wieder angestrengt. Und plötzlich ist es ihr, als werde sie von einer Hand herumgerissen … durch den Nebel dringt ein fernes Pfeifen: eine kleine, lockende Liebesmelodie. Sie erinnert sich: »Wenn Nebel herrschen sollte, werde ich pfeifen«, hatte der junge Mann gesagt. »Ein kleines Liebeslied. Kennen Sie es?«
    Und er hatte ihr die paar Takte vorgepfiffen. Sie hatte es rührend naiv und doch so vertraut gefunden.
    Ruth Kappel lauscht in den Nebel. Sie steht an der falschen Laterne, das weiß sie jetzt. Und sie wird dem Pfeifen nachgehen, wenn sie festgestellt hat, aus welcher Richtung es durch den Nebel kommt.
    Da ist es plötzlich wieder … gar nicht weit entfernt. Ja, es ist das Liebeslied … Er sucht sie … »Hallo!« ruft sie noch einmal. »Hallo, ich komme, ich bin da!«
    Nun geht sie durch den Nebel, dem Pfeifen entgegen. Aber es ist merkwürdig … je länger sie läuft, desto weiter entfernt sich das Liebeslied. Es ist, als weiche der Mann vor ihr zurück, als locke er sie tiefer in den Nebel hinein, der Küste zu.
    Ein wenig ängstlich geworden bleibt Ruth Kappel stehen. »Wo sind Sie denn?« ruft sie in den dicken Nebel hinein. Sie schaut sich um … Einsamkeit, Nacht, tropfende Bäume, in der Ferne hinter ihr der schwache Schein einer einzelnen Laterne. Ihr Herz schlägt plötzlich heftig. Sie will zurück zu dem Licht, aber noch immer lockt das Pfeifen. »Hallo!« ruft sie noch einmal. Da ist es still. Das Pfeifen ist verstummt. Ruth Kappel fährt sich mit den Händen an den Mund. Etwas Furchtsames ist in dieser Bewegung … oder gar schon etwas Entsetztes. Ich gehe zurück, denkt sie plötzlich. Ich will nach Hause. Was soll dieses dumme Pfeifen?
    Sie wendet sich um und legt ein paar Schritte zurück. Da stößt sie plötzlich einen erstickten Laut aus. Von hinten hat sich eine breite Hand um ihren Hals gelegt, die Finger drücken schnell und mit unheimlicher Kraft gegen ihre Kehle. Sie will noch einmal schreien, sie schlägt mit den Armen um sich, sie tritt nach hinten … ein leises Lachen dringt ihr ins
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