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Russisches Abendmahl

Russisches Abendmahl

Titel: Russisches Abendmahl
Autoren: Brent Ghelfi
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in dick besohlten Schuhen, die aussehen, als würden sie an den Füßen schmerzen, zwei eng umschlungene Paare, ein schmächtiger Junge mit einer Kuriertasche über der Schulter und eine Angehörige der benachbarten orthodoxen Kirche mit einem blauen Kopftuch. Keiner von ihnen sieht mir nach einem Kunsthistoriker aus.
    Ich überquere die Straße, öffne die Tür zum Café, steige die zerrissenen Teppichstufen hinauf und warte auf den Empfangskellner. Hängepflanzen und niedrige Trennwände brechen die Gruppen grün gedeckter Tische auf. Ungefähr die Hälfte davon ist besetzt. Valja liest ein Buch an einem Fenstertisch mit Blick auf den Fluss, der sich im fahlen Mond- und Sternenlicht wie flüssiges Quecksilber vorbeischlängelt.
    Arkadij sitzt zwei Tische weiter. Anders als Männer es für gewöhnlich tun, beachtet er sie nicht. Er ist allein. Er sieht mich und winkt, und ich bewege mich absichtlich schwerfällig auf ihn zu. Er zieht einen Stuhl vom Tisch weg, aber ich setze mich auf einen anderen, mit dem Rücken zu Valja, und stütze meine Prothese auf den, den er ausgesucht hat.
    »Dein Bein …?«
    »Schlecht. Gehen fällt schwer. Laufen ist praktisch unmöglich.«
    Er schnalzt mit der Zunge, setzt sich und nippt an seinem Tee. »Rolf müsste jeden Augenblick hier sein.«
    »Rolf?«
    »Dr. Lipman.«
    Der Name stand in Valjas Verzeichnis. Arkadijs Maulwurf ist zweiter stellvertretender Direktor des Eremitage Museums und Kunstrestaurator. »Erzähl mir von ihm.«
    »Er ist geborener Schweizer«, erwidert Arkadij. »Mitte dreißig. Seit einigen Jahren am Museum und …«
    »Nein.« Das ist nicht die Art von Informationen, die ich will. Die habe ich schon. »Erzähl mir, wie du ihn kennengelernt hast und was er jetzt vorhat.«
    Arkadij windet sich, ihm ist sichtlich unwohl. Eine Haarsträhne ist ihm ins Auge gefallen, was irgendwie zu seinem nervösen Auftreten passt. »Er ist ein … Freund.« Er scheint eine Reaktion zu erwarten.
    Ich erinnere mich an einen gemeinsamen Tag in unserem Leben. In einer Besserungsanstalt für Jungs an der kalten Ostseeküste nördlich von St. Petersburg, damals noch Leningrad, standen wir aufgereiht wie die Feuerwehr und reichten Ziegel an die Bauarbeiter durch, die eine neue Marinekaserne bauten. Während einer der seltenen Pausen stieg ich auf einen Hügel, um von oben einen Blick auf die Ameisenkette zu werfen. Kurz vor meinem Ziel sah ich Arkadij, und im selben Augenblick er mich. Er kniete auf dem Permafrostboden, eine Wange aufgebläht, und besorgte es einem der Strafgefangenen mit dem Mund. Damals glaubte ich, er hätte es wegen des Geldes getan, und dachte mir nichts dabei, aber jetzt schließt sich damit ein Kreis.
    »Das macht die Sache kompliziert«, sage ich.
    »Nein.« Er schüttelt den Kopf wie ein nasser Hund. »Es macht sie sicher. Ich vertraue ihm voll und ganz.«
    »Was will er?«
    Arkadij guckt überrascht. »Geld.«
    »Sind Restauratoren immer so gierig?«
    Er zuckt mit den Schultern. Sein Blick wandert zu einem Ort hinter meinem Rücken. Ich tue so, als bemerke ich nichts, und bin insgeheim froh, dass Valja da ist.
    »Warum ich?«, frage ich.
    »Das hab ich dir doch gesagt. Wir brauchen Hilfe bei der Planung. Mumm. Köpfchen. Dein Talent ist gefragt, Alexei.«
    Das überzeugt mich nicht. So etwas bekommt man für weniger als ich nehme. »Lass hören«, sage ich.
    Im selben Augenblick höre ich Valja hinter mir schnurren: »Verzeihung, können Sie mir sagen, wie spät es ist?«
    Arkadij verfolgt mit besorgtem Blick das kleine Schauspiel, das sich hinter meinem Rücken abspielt. Ich lasse meine Hand in die Hosentasche gleiten und greife nach der Sig-Sauer P 226 Navy, deren mit Metallscherben gefüllte 9 mm Patronen explodieren und Löcher ins Fleisch ihrer Opfer reißen.
    »Kurz nach Mitternacht«, sagt ein Mann. Die Stimme klingt kultiviert, der schweizerische Akzent ist unverkennbar.
    Valja hat ganze Arbeit geleistet. Ich weiß, dass er da ist, ohne dass sie sich zu erkennen gegeben hat. »Entschuldigen Sie, wenn ich Sie belästigt habe«, sagt sie.
    Arkadij begrüßt den Neuankömmling mit strahlenden Augen und einer herzlichen Umarmung. »Das ist Dr. Rolf Lipman«, sagt er zu mir.
    Er ist der Mann mit der Kuriertasche, aus der Nähe betrachtet sieht er älter aus. Auf eine seltsame Art könnte er Arkadijs schwächlicher Zwilling sein, aber das liegt wahrscheinlich hauptsächlich an seinem schütteren blonden Haar. Seine Nase ist länger und hakenförmig, auf ihr
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