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Soldaten

Soldaten

Titel: Soldaten
Autoren: Sönke Neitzel
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Prolog 1: Sönke Neitzel
    Es war ein typischer englischer Novembertag: tief hängende Wolken, Nieselregen und acht Grad. Wie oft zuvor war ich mit der District Line bis nach Kew Gardens gefahren, an der pittoresken U-Bahn-Station im Südwesten Londons ausgestiegen und zum britischen Nationalarchiv gehastet, um mich dort in alte Akten zu vergraben. Der Regen war diesmal noch unangenehmer als sonst und trieb mich zur Eile. Im Eingangsbereich stand – wie immer – eine beeindruckende Zahl von Aufsichtspersonen, die flüchtig meine Tasche durchwühlten. Es ging vorbei an dem kleinen Buchladen zur Garderobe, dann die Treppe hinauf in den Lesesaal, wo mich spätestens der stechend grüne Teppich darin versicherte, dass sich hier seit dem letzten Besuch nichts verändert hatte.
    In jenem Herbst 2001 arbeitete ich als Gastdozent an der Universität Glasgow und hatte mir einen kurzen London-Besuch genehmigt. Wenige Wochen zuvor war ich auf das Buch Michael Gannons über die Wende in der Atlantikschlacht im Mai 1943 gestoßen. Darin waren auch einige Seiten Abhörprotokolle deutscher U-Boot-Fahrer abgedruckt – und das hatte mich neugierig gemacht. Dass es Verhörberichte über deutsche Gefangene gab, war mir bekannt, aber von geheimen Lauschberichten hatte ich noch nie gehört. Dieser Spur wollte ich unbedingt nachgehen. Allzu Aufregendes erwartete ich freilich nicht. Worum konnte es sich schon handeln? Einige wenige Seiten unzusammenhängender Gespräche, irgendwo von irgendwem aufgenommen. Unzählige Male hatten sich hoffnungsvolle Hinweise auf vermeintlich neue Quellen als Sackgasse erwiesen.
    Doch diesmal war es anders: Auf meinem kleinen Arbeitstisch lag ein dickes Aktenbündel, vielleicht 800 Seiten stark, zusammengehalten nur durch einen Bindfaden. Die dünnen Blätter lagen noch fein säuberlich geordnet übereinander; ich muss einer der Ersten gewesen sein, der sie in Händen hielt. Mein Blick glitt über endlose Gesprächsprotokolle deutscher Marinesoldaten, U-Boot-Fahrer meist, Wort für Wort transkribiert. 800 Seiten allein vom Monat September 1943. Wenn es Berichte vom September gab, musste es auch welche vom Oktober und vom November 1943 geben. Und was war mit den übrigen Kriegsjahren? Und tatsächlich, auch von anderen Monaten existierten dicke Bände. Mir dämmerte allmählich, dass ich auf die Spitze eines Eisberges gestoßen war. Aufgeregt bestellte ich mehr und immer mehr Akten; offenbar waren nicht nur U-Boot-Fahrer, sondern auch Luftwaffen- und Heeressoldaten abgehört worden. Ich las mich in den Gesprächen fest, wurde geradezu hineingesogen in die Innenwelt des Krieges, die sich vor mir ausbreitete. Man hörte die Soldaten förmlich reden, sah sie gestikulieren und debattieren. Vor allem die Offenheit, mit der sie über das Kämpfen, Töten und Sterben sprachen, überraschte mich. Mit einigen Kopien interessanter Textstellen im Gepäck flog ich zurück nach Glasgow. Im Historischen Institut traf ich am nächsten Tag zufällig Professor Bernard Wasserstein und erzählte ihm von meinem Fund. Ich sagte, dass das wohl eine ganz neue Quelle sei und man darüber vielleicht eine Dissertation vergeben könne. »You want to give it away?«, fragte er erstaunt. Dieser Satz wirkte noch lange in meinen Gedanken nach. Nein, er hatte recht: Diesen Schatz musste ich selber heben.
    Wieder und wieder fuhr ich fortan nach London und begann zu begreifen, worauf ich eigentlich gestoßen war: Die Briten hatten während des gesamten Krieges Tausende deutsche und einige hundert italienische Gefangene systematisch abgehört, besonders interessant erscheinende Gesprächspassagen auf Wachsplatten aufgenommen und davon Abschriften angefertigt. Sämtliche Protokolle hatten den Krieg überdauert und waren 1996 freigegeben worden. In den folgenden Jahren hat aber niemand die Bedeutung dieser Quellen erkannt – unentdeckt schlummerten sie in den Magazinregalen vor sich hin.
    2003 veröffentlichte ich erste Auszüge, zwei Jahre später folgte eine Edition mit knapp 200 Abhörprotokollen deutscher Generäle. Die Auswertung dieser Quellen war damit aber nur ein kleines Stück vorangeschritten. Kurze Zeit später stieß ich in den National Archives in Washington auf einen ganz ähnlichen Bestand, doppelt so groß wie der britische, also noch einmal 100 000 Seiten dazu. Es war unmöglich, diese schier unübersehbare Menge an Akten allein auszuwerten.

Worüber die Soldaten sprechen
    SCHMID : Ich habe da mal einen Fall
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