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Soldaten

Soldaten

Titel: Soldaten
Autoren: Sönke Neitzel
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gehört von zwei fünfzehnjährigen Bengels. Die hatten Uniform an und schossen da wild mit. Wurden aber gefangen. [...] Dass der Russe auch junge Burschen bei sich hat, sogar Zwölfjährige an der Musik zum Beispiel, die eingekleidet waren, das habe ich selbst gesehen. Wir hatten mal ein russisches Musikkorps – aber das machte eine Musik, du! Also, da bist du zunächst mal vollkommen fertig. So was Stilles, was über der Musik liegt, so was Sehnsuchtsschweres – ich möchte sagen, die ganze russische Weite kommt dir in den Sinn. Das ist furchtbar. Das hat mir einen Heidenspaß gemacht. Das war so eine Militärkapelle. [...] Also, jedenfalls die beiden jungen Burschen sollten nach dem Westen tippeln – sollten sich genau an die Straße halten. In dem Moment, wo sie versuchen, bei der nächsten Biegung in den Wald reinzuhuschen, da kriegen sie was auf den Latz geknallt. Und kaum sind sie außer Sichtweite, da schleichen sie weg von der Straße – husch, husch, weg waren sie. Da wurde gleich ein größeres Kontingent aufgeboten und musste suchen. [...] Und dann haben sie die beiden erwischt. Das waren die zwei, du. Nun waren sie so anständig und haben die nicht gleich erschlagen, sie haben die nochmals vor den Regimentskommandeur gestellt. Nun war es ja klar, nun hatten sie ihr Leben verwirkt. Da mussten sie ihr Grab schaufeln, zwei Löcher, dann wurde der eine erschossen. Der fällt nicht ins Grab, der fällt vorne über. Da sagt man dem anderen, er sollte den Ersten ins Loch reinwerfen, bevor er selbst erschossen wird. Das hat er mit lächelnder Miene gemacht! Ein fünfzehnjähriger Bengel! Das ist ein Fanatismus oder Idealismus – da ist was dran! [2]
    Diese Geschichte, die Oberfeldwebel Schmid am 20. Juni 1942 erzählt, ist typisch dafür, wie Soldaten in den Abhörprotokollen sprechen. Wie in jedem anderen Alltagsgespräch wechselt der Erzähler mehrmals assoziativ die Themen – mittendrin fällt Schmid beim Stichwort »Musik« ein, wie sehr er die russische Musik mag, beschreibt diese kurz, dann erzählt er die eigentliche Geschichte weiter. Die fing harmlos an, aber ihr Ende ist böse: Es geht um die Erschießung zweier russischer Soldaten im Jungenalter. Der Erzähler berichtet, dass die Jungen nicht einfach erschossen wurden, sondern sie sich selbst ihr Grab schaufeln mussten, bevor man sie ermordete. Bei der Erschießung gibt es eine Komplikation, und die führt dann zur eigentlichen Moral der Geschichte: Der zu tötende Junge erweist sich als »fanatisch« oder »idealistisch« – und der Oberfeldwebel gibt seiner Bewunderung darüber Ausdruck.
    Wir haben hier eine auf den ersten Blick spektakuläre Kombination vieler Themen – Krieg, feindliche Soldaten, Jugendliche, Musik, russische Weite, Kriegsverbrechen, Bewunderung – vor uns, die alle nicht zusammenzugehören scheinen, aber trotzdem in einem einzigen Atemzug erzählt werden. Das ist das Erste, was man festhalten kann: Die Geschichten, von denen hier die Rede ist, sind anders, als man es erwarten würde. Sie folgen nicht den Kriterien von Geschlossenheit, Konsistenz und Logik, sondern sie sollen Spannung erzeugen, interessant sein, Raum und Anschlussmöglichkeiten für Kommentare oder eigene Geschichten der Gesprächspartner geben. In dieser Hinsicht sind sie wie alle Alltagsgespräche sprunghaft, aber interessant, voller Abbrüche, neuer Anknüpfungen von Erzählfäden, vor allem auf Konsens und Übereinstimmung ausgelegt. Menschen unterhalten sich nicht nur, um Informationen auszutauschen, sondern um eine Beziehung zu bilden, Gemeinsamkeiten herzustellen, sich zu versichern, dass man an ein- und derselben Welt teilhat. Diese Welt ist der Krieg, und das nun macht die Gespräche ganz unalltäglich, aber nur für heutige Leserinnen und Leser, nicht für die Soldaten.
    Die Brutalität, Härte und Kälte des Krieges sind ein alltägliches Moment dieser Gespräche, und das frappiert immer wieder, wenn man die Dialoge heute, also mehr als 60 Jahre nach den Ereignissen liest. Unwillkürlich schüttelt man den Kopf, ist erschüttert, nicht selten geradezu fassungslos – aber von derlei moralischen Regungen muss man sich frei machen, sonst versteht man nur die eigene Welt, nicht aber die der Soldaten. Die Normalität des Brutalen zeigt ja nur eins: Das Töten und die extreme Gewalt gehören zum Alltag der Erzähler und ihrer Zuhörer, sind eben nichts Außergewöhnliches. Sie unterhalten sich stundenlang darüber, aber zum Beispiel auch
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