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Soldaten

Soldaten

Titel: Soldaten
Autoren: Sönke Neitzel
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entscheiden und agieren sie. Deshalb handeln Menschen, anders als die marxistische Theorie annahm, nie auf Basis objektiver Bedingungen, und sie handeln auch nicht, wie die »Rational Choice«-Theoretiker in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften lange glauben machen wollten, allein mit Blick auf Kosten-Nutzen-Kalküle. Ein Krieg geht so wenig in Kosten- und Nutzenerwägungen auf wie er aus objektiven Verhältnissen entstehen
muss
. Ein Körper fällt immer entsprechend den Fallgesetzen und nie anders, aber was Menschen tun, können sie immer auch anders tun. Es sind auch nicht so magische Angelegenheiten wie »Mentalitäten«, die Menschen so oder so handeln lassen, obwohl auch psychische Formationen zweifellos bedeutsam für das sind, was Menschen machen. Mentalitäten gehen Entscheidungen voraus, determinieren sie aber nicht. Auch wenn Menschen in ihrem Wahrnehmen und Handeln an gesellschaftliche, kulturelle, hierarchische und biologische bzw. anthropologische Bedingungen gebunden sind, finden sie doch jeweils Deutungs- und Handlungsspielräume vor. Deuten und entscheiden zu können setzt freilich Orientierung voraus und Wissen darüber, womit man es gerade zu tun und welche Konsequenzen welche Entscheidung hat. Und diese Orientierung liefert eine Matrix von ordnenden und organisierenden Deutungsvorgaben: der Referenzrahmen.
    Referenzrahmen sind historisch und kulturell höchst variabel: Orthodoxe Muslime ordnen sittliches und verwerfliches Sexualverhalten in andere Referenzrahmen ein als weltliche Bewohner des Abendlandes. Aber kein Mitglied einer der beiden Gruppen deutet, was er sieht, frei von Referenzen, die nicht er selbst gewählt und ausgesucht hat und die seine Wahrnehmungen und Interpretationen prägen, anleiten und in beträchtlichem Ausmaß steuern. Das heißt nicht, dass es in besonderen Situationen nicht auch Überschreitungen des gegebenen Referenzrahmens gäbe und dass Neues gesehen und gedacht wird, aber das ist relativ selten der Fall. Referenzrahmen gewährleisten Handlungsökonomie: Das allermeiste, was geschieht, lässt sich in eine bekannte Matrix einordnen. Das wirkt entlastend. Kein Handelnder muss immer wieder bei null beginnen und stets aufs Neue die Frage beantworten: Was geht hier eigentlich vor? Der allergrößte Teil der Antworten auf diese Frage ist voreingestellt und abrufbar – ausgelagert in einen kulturellen Orientierungs- und Wissensbestand, der weite Teile der Aufgaben im Leben in Routinen, Gewohnheiten, Gewissheiten auflöst und den Einzelnen kolossal entlastet.
    Umgekehrt bedeutet das aber: Wenn man das Handeln von Menschen erklären will, muss man rekonstruieren, innerhalb welcher Referenzrahmen sie gehandelt haben – was ihre Wahrnehmungen geordnet und ihre Schlussfolgerungen nahegelegt hat. Für diese Rekonstruktion sind Analysen objektiver Bedingungen völlig unzureichend. Mentalitäten erklären ebenfalls nicht,
warum
jemand etwas getan hat, zumal dann, wenn es unter Angehörigen derselben mentalen Formation zu ganz unterschiedlichen Schlussfolgerungen und Entscheidungen kommt. Hier liegt die systematische Grenze von Theorien über Weltanschauungskriege oder auch totalitäre Regime: Die Frage bleibt ja immer, wie sich »Weltanschauungen« und »Ideologien« in individuelle Wahrnehmungen und Deutungen übersetzen, wie sie im Handeln der Einzelnen wirksam werden. Um das zu verstehen, verwenden wir das Verfahren der Referenzrahmenanalyse, ein Instrument für die Rekonstruktion der Wahrnehmungen und Deutungen von Menschen in bestimmten historischen Situationen, hier von deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg.
    Das Verfahren der Referenzrahmenanalyse geht auf die Überlegung zurück, dass man die Deutungen und Handlungen von Menschen nicht verstehen kann, wenn man nicht rekonstruiert, was sie »gesehen« haben – innerhalb welcher Deutungsmuster, Vorstellungen, Beziehungen sie Situationen wahrgenommen und wie sie diese Wahrnehmungen interpretiert haben. Ohne die Berücksichtigung des Referenzrahmens müssen wissenschaftliche Analysen vergangener Handlungen zwangsläufig normativ ausfallen, weil als Grundlage des Verstehensprozesses die normativen Maßstäbe der jeweiligen Gegenwart herangezogen werden. Deshalb erscheinen historische Geschehnisse im Zusammenhang von Krieg und Gewalt oft als »grausam«, obwohl Grausamkeit ganz und gar keine analytische Kategorie ist, sondern eine moralische. Und deshalb erscheint das Verhalten von Menschen, die Gewalt ausüben, oft
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