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Soldaten

Soldaten

Titel: Soldaten
Autoren: Sönke Neitzel
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schon von vornherein als anormal oder pathologisch, obwohl es – wenn man die Welt aus ihrer Sicht rekonstruiert – plausibel und nachvollziehbar ist, dass sie Gewalt ausüben. Es geht uns also darum, mit Hilfe der Referenzrahmenanalyse einen
unmoralischen
, nämlich nicht-normativen Blick auf die Gewalt zu werfen, die im Zweiten Weltkrieg ausgeübt wurde – um zu verstehen, was die Voraussetzungen dafür sind, dass psychisch ganz normale Menschen unter bestimmten Bedingungen Dinge tun, die sie unter anderen Bedingungen nie tun würden.
    Wir unterscheiden dabei Referenzrahmen unterschiedlicher Ordnung:
    Referenzrahmen
erster Ordnung
umfassen das soziohistorische Hintergrundgefüge, vor dem Menschen in einer jeweiligen Zeit handeln. So wie sich kein Bundesbürger beim Lesen der Zeitung darüber Rechenschaft ablegt, dass er zum christlich-abendländischen Kulturkreis zählt und seine Bewertungen etwa eines afrikanischen Politikers an die Normen dieses Kulturkreises gebunden sind, so ist sich in der Regel niemand über die Orientierungsfunktion solcher Rahmen erster Ordnung bewusst. Rahmen erster Ordnung sind das, was Alfred Schütz die »assumptive world« genannt hat, das als selbstverständlich vorausgesetzte So-Sein einer gegebenen Welt, was darin als »gut« und »böse«, als »wahr« oder »falsch« betrachtet wird, was zum Bereich des Essbaren gehört, welchen Körperabstand man beim Sprechen einhält, was als höflich oder unhöflich gilt usw. Diese »gefühlte Welt« ist weit eher auf einer unbewussten und emotionalen Ebene wirksam als auf einer reflexiven. [4]
    Referenzrahmen
zweiter Ordnung
sind historisch, kulturell und meist auch geographisch konkreter: Sie umfassen einen soziohistorischen Raum, den man in den meisten Hinsichten eingrenzen kann – auf die Herrschaftsdauer eines Regimes zum Beispiel, auf die Geltungsdauer einer Verfassung oder die Geschichte einer historischen Formation wie zum Beispiel der des »Dritten Reiches«.
    Referenzrahmen
dritter Ordnung
sind nochmals spezifischer: Sie umfassen einen konkreten soziohistorischen Geschehenszusammenhang, in dem bestimmte Personen handeln, zum Beispiel also einen Krieg, in dem sie als Soldaten kämpfen.
    Referenzrahmen
vierter Ordnung
sind die jeweils besonderen Eigenschaften, Wahrnehmungsweisen, Deutungsmuster, gefühlten Verpflichtungen etc., die eine Person in eine Situation mit hineinbringt. Auf dieser Ebene geht es um Psychologie, um persönliche Dispositionen und um die Frage der individuellen Entscheidungsfindung.
    Wir werden in diesem Buch Referenzrahmen
zweiter
und
dritter Ordnung
analysieren, weil unser Material vor allem dazu einen Zugang erlaubt.
     
    Es geht also um die Welt des »Dritten Reiches«, aus der die Wehrmachtsoldaten kommen, und um die Analyse der konkreten Situationen in Krieg und Militär, in denen sie handeln. Über die Persönlichkeiten der einzelnen Soldaten – den Rahmen vierter Ordnung – wissen wir dagegen oft nichts und immer zu wenig, um zum Beispiel erklären zu können, welche biographische Begebenheit und welche psychische Disposition dafür verantwortlich war, dass jemand gern getötet hat und jemand anderes Abscheu davor hatte.
    Bevor wir aber mit der eigentlichen Analyse beginnen, sollen zunächst die verschiedenen Bestandteile von Referenzrahmen dargestellt werden.

Nicht-Wissen
    Das Beispiel des jüdischen Jungen Paul Steinberg, der als 16-Jähriger in Frankreich von einer Nachbarin denunziert und daraufhin nach Auschwitz deportiert wurde, gibt einen Einblick in mögliche Wirkungen des Nicht-Wissens. So wurde Steinberg in Auschwitz auf ein fatales Defizit in seinem Referenzrahmen aufmerksam, und zwar beim Duschen:
    ›Wie kommst du denn hierher?‹, fragte ein Kürschner aus dem Faubourg-Poissonnière. Ich sah ihn verdutzt an. Er zeigte mit seinem Finger auf meinen Schwanz, rief die Gefährten herbei und schrie: ›Der ist ja gar nicht beschnitten!‹ Ich wusste so wenig über Beschneidung wie über die jüdische Religion im Allgemeinen. Mein Vater hatte es unterlassen – ganz sicher aus einer schwachsinnigen Scham heraus –, mich mit diesem fesselnden Thema bekannt zu machen. Ich war und bleibe wohl auch der einzige deportierte Jude aus Frankreich und Navarra, der unbeschnitten in Auschwitz anlangte, ohne diese Trumpfkarte ausgespielt zu haben. Die Ansammlung um mich herum wurde immer größer, die Kerle lachten sich halb tot. Am Ende hat mich einer von ihnen als den allerletzten Trottel
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