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Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 16 Ikezukuri

Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 16 Ikezukuri

Titel: Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 16 Ikezukuri
Autoren: Martin Clauß
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    Deutschland, 2004
    Sie lag auf einem harten Untergrund und starrte an die Decke. Wie lange sie sich schon in dieser Situation befand, wusste sie nicht. Sie hatte keine Erinnerung an das, was vorher gewesen war. Wenn sie sich an irgendetwas erinnerte, dann an das, was nachher kam, an die Entdeckung, die sie gleich machen würde.
    Sie erinnerte sich an die Zukunft. Als wäre diese bereits Vergangenheit.
    Ihre Augen fixierten einen weißen Farbklecks an der blauen Decke, der sich bewegte. Immer weiter zog der watteartige Fleck dahin, bis sie begriff, dass es sich um eine Wolke handelte. Und was sie für eine Zimmerdecke gehalten hatte, war der freie Himmel. Unter ihrem Körper fühlte sie etwas Körniges, wie Sand, und in ihren Ohren klang ein Rauschen, der langsame Rhythmus von Wellen, die an den Strand klatschten.
    Das Meerwasser erreichte sie nicht, sie lag im Trockenen, der Sand rieselte und knarrte unter ihr, wenn sie sich zu rühren versuchte. Nur zu winzigen Bewegungen war sie imstande, sie schaffte es nicht, sich auf die Seite zu drehen oder auch nur die Arme oder Beine zu bewegen.
    Warum nicht? Warum war sie wie gelähmt?
    Ein Teil von ihr wusste es schon. Der Teil, der die Zukunft schon kannte, wusste um das ganze schreckliche Geheimnis, und dieser Teil machte ihr keine Angst – sie wünschte sich nur, es gäbe jene andere Hälfte nicht, den unwissenden, unvorbereiteten Teil von ihr, der die nächsten Sekunden vollkommen neu und arglos erleben würde, den das Grauen überraschen und an den Rand des Wahnsinns treiben würde …
    Ihre Nackenmuskeln waren intakt, sie konnte den Kopf drehen und anheben, wenn sie wollte.
    Wollte sie?
    Langsam spannte sie die Muskeln, hob den Kopf.
    Du tust dir nur weh , sagte eine Hälfte von ihr. Unter dem Schock, den du gleich haben wirst, wirst du zerbrechen. Sieh nicht hin!
    Als erstes sah sie ihre Zehen, dann die Beine, ihre kleinen Brüste, den flachen Bauch. Nackt lag ihr Körper im Sand, und niemand hielt sich in ihrer Nähe auf.
    Es ist nicht schlimm , sagte sie zu sich. Ich liege splitternackt am Strand, und das ist ungewöhnlich und befremdend, und ich weiß nicht, wie ich in diese Situation komme, aber es nicht weiter schlimm. Ich dachte schon, ich könnte … verletzt sein. Einen Unfall gehabt haben. Aber ich bin unversehrt.
    Beweg dich nicht , meldete sich die andere Stimme. Denk was du willst, aber beweg dich nicht. Solange du dich nicht rührst, wirst du nicht merken, was wirklich mit dir geschehen ist.
    Natürlich wollte sie sich bewegen. Wollte sich beweisen, dass sie weder gelähmt noch tot war. Sie sog die Luft tief ein, beobachtete aufmerksam, was ihre Brust machen würde. Bis jetzt war sie noch nicht einmal sicher, ob sie überhaupt atmete. Aber diese Sorge war unbegründet. Je mehr von der salzigen Meeresluft in ihre Lungen floss, desto weiter hob sich ihr Brustkorb, füllte sich, dehnte sich, und …
    Ihr Fleisch! Ihr Fleisch!
    Was geschah mit ihrem Körper?
    Was eben noch wie eine geschlossene Hautschicht gewirkt hatte, offenbarte nun tiefe Furchen, Einschnitte. Das Fleisch, das ihren Körper bedeckte, war nicht mehr mit diesem verbunden – jemand hatte es mit einem scharfen Messer in zahllose kleine Stückchen, Würfel geschnitten. Diese teilten sich jetzt, fielen auseinander, und es blieb nicht auf ihre Brust beschränkt.
    Sie zuckte vor Schreck zusammen, und dieses Zucken machte alles noch schlimmer. Ihr Bauch, ihre Schenkel, ihre Arme, ihr gesamter Körper war nichts als ein lose zusammengesetztes Gebilde aus sauber geschnittenen Fleischstücken. Nirgendwo floss auch nur ein Tropfen Blut, aber der Ruck, der durch ihren Leib ging, ließ das instabile Kunstwerk ihres Körpers auseinanderfallen. Die Fleischwürfel verrutschten und kullerten herab.
    Madoka stieß einen gellenden Schrei aus und versuchte, vor dem Grauen zu fliehen, doch wenn sie floh, floh sie nicht von dem Schrecklichen, nur vor ihrem Körper, trieb dessen Zerfall weiter voran.
    Sie krallte ihre Hände, oder was davon übriggeblieben war, in den Sand. Der Sand fühlte sich plötzlich glatt und kühl an, und ihr Schrei war kein Schrei mehr, sondern ein Gurgeln. Der Rhythmus der Wellen verwandelte sich in ein rasend schnelles, piepsendes Geräusch, gleich hinter ihrem Kopf. Sie wollte sich aufrichten, doch eine schwere Decke drückte sie nach unten. Die Decke und der Schmerz. Ihr ganzer Körper war in Pein getränkt.
    Sie schlug die Augen auf, und das Krankenzimmer war da.
    Sie wusste
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