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Russisches Abendmahl

Russisches Abendmahl

Titel: Russisches Abendmahl
Autoren: Brent Ghelfi
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liegt eine rundglasige John Lennon Brille, und seine Lippen wölben sich über einen rotblonden Unterlippenbart.
    Ich drücke mich unbeholfen aus meinem Stuhl hoch, zucke kurz zusammen und gebe ihm die Hand. Sein Händedruck ist fest und trocken, nicht der tote Fisch, wie seine fahle Erscheinung vermuten lässt.
    »Sind Sie verletzt?«, fragt er.
    »Es ist sein Fuß«, antwortet Arkadij für mich.
    Lipman nickt, als wisse er Bescheid, und runzelt die Stirn. »Wie soll er …«
    »Kein Problem«, sagt Arkadij, und Lipman geht nicht weiter darauf ein.
    Wir setzen uns. Arkadij gießt Tee aus einem Messing-Samowar ein. Valja tut, als würde sie gehen, aber ich weiß, dass sie in der Nähe bleibt. Als wir allein in unserer Ecke sind, holt Lipman eine dünne Ledermappe aus seiner Kuriertasche.
    »Was wissen Sie über die verschollenen Meisterwerke?«, fragt er mich.
    »So gut wie nichts.«
    Auf diese Antwort hat er gewartet. Er grinst und holt zu einem übermäßig komplizierten Vortrag mit zu vielen Abschweifungen aus, den er mit den Worten beendet: »Diese Gemälde, von denen jedes einzelne auf dem freien Markt Millionen von Euro wert ist, fristeten ihr Dasein ein halbes Jahrhundert lang in einer Grauzone der Nichtexistenz.« Er nippt an seinem trüben russischen Tee und sieht sich im Raum um. Seine Hand zittert, als er den Becher zurückstellt. »Und es gibt noch andere«, sagt er leise. »Nicht aus dem Krieg. Die Eremitage ist ein unterfinanziertes Lagerhaus verschollener Kunstwerke.«
    »Wer sind die Künstler?«
    Er lehnt sich nach vorn und starrt mich wie elektrisiert an. Was auch immer jetzt kommt, ich nehme an, dass er daran mit einer Intensität glaubt, die an Fanatismus grenzt. »Nur einer ist wichtig«, sagt er.
    Er beugt sich über seine Tasche, wirft kurze Blicke umher, holt ein großformatiges, schlecht belichtetes Foto heraus und reicht es mir mit einem seltsam klagenden Stöhnen, als könne er es nicht ertragen, sich davon zu trennen. Die Welt ringsum scheint stehen zu bleiben, als er den Namen wie eine Zauberformel singt.
    »Leonardo da Vinci.«

5
    Am nächsten Tag vor dem Mittagessen erkunden wir das Gelände der Eremitage. Kaufen Tickets wie Touristen und surfen durch verschlungene Hallen voller Schaulustiger. Stehen in einem Flur am Fenster und schauen auf den schmalen Kanal zwischen der Kleinen Eremitage und dem Eremitage-Theater. Durchqueren das Museum, während Lipman uns flüsternd über den Verlauf der unterirdischen Gänge informiert.
    Weil das Restaurant wegen Renovierung geschlossen ist, setzen wir uns an einen der Aluminiumtische, die um einen lieblosen Sandwichstand herum aufgebaut sind.
    »Warum tragen wir sie nicht nachts oder unter irgendeinem Vorwand raus?«, frage ich Lipman.
    »Angestellte werden durchsucht, wenn sie das Gebäude verlassen. Ein- und ausgehende Lieferungen werden mindestens zweimal geprüft. Und abgesehen von den Katakomben gibt es überall Kameras.«
    Ich lasse meinen Blick über die sich windenden Menschenströme wandern. Die Menge kaschiert die Paranoia russischer Sicherheitsvorkehrungen auf diversen Ebenen. Kameras ragen oben aus den Ecken wie schnüffelnde Schnauzen. Uniformierte Wachmänner stehen in Nischen im Mauerwerk und halten Ausschau. Andere Wachen sind weniger auffällig. Sie tragen Touristenkleidung und mischen sich unters Volk. Ein Gemälde von dieser Größe zu entwenden ist in der Tat ein kniffliges Unterfangen.
    Aber Leonardos Werk ist von meiner generellen Verachtung für Westkunst ausgenommen. Allein der Gedanke daran nimmt mich unwiderstehlich gefangen. »Erzählen Sie mir, wie das Bild hierher gekommen ist«, sage ich.
    Lipman legt die teigigen, blau geäderten Hände in den Schoß und schürzt pedantisch die Lippen. Als er die Nase rümpft, schieben sich die runden Brillengläser zur Stirn hoch. »Das Bild ist in der ersten Dekade des 16. Jahrhunderts entstanden. Es ist eines von nur fünfzehn Gemälden, die Da Vinci in seinem Leben gemalt hat. Jedenfalls sind auf der Welt nur fünfzehn bekannt.«
    Er sieht mich an, als erwarte er einen Einwand, aber ich zeige keine Reaktion.
    Erleichtert atmet er aus. »Heute kennt man dieses Bild nur von Da Vincis Kreide- und Tuschestudien, aber auch aus schriftlichen Quellen und von diversen minderwertigen Kopien.«
    »Woher wissen wir, dass dies nicht auch nur eine Kopie ist?«
    »Es ist signiert. Und ich kenne mich mit seinem Werk aus. Vor der Eremitage habe ich in Mailand an der Restaurierung des Abendmahls
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