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Diamantene Kutsche

Diamantene Kutsche

Titel: Diamantene Kutsche
Autoren: B Akunin
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KAMI-NO-KU
    Erste Silbe,
welche in gewisser Beziehung
zum Fernen Osten steht
    An jenem Tag, als die schreckliche Zerschlagung der russischen Flotte vor der Insel Tsushima zu Ende ging und die ersten dumpfen, alarmierenden Nachrichten von diesem blutigen Triumph der Japaner nach Europa drangen, an diesem Tag erhielt Stabskapitän Rybnikow, der in einer namenlosen Gasse in Peski lebte, folgendes Telegramm aus Irkutsk: »Blätter unverzüglich abschicken, Patienten beobachten, Ausgaben begleichen.«
    Stabskapitän Rybnikow verkündete seiner Quartierherrin umgehend, dienstliche Angelegenheiten beriefen ihn für ein, zwei Tage aus Petersburg ab, sie solle sich also wegen seiner Abwesenheit keine Sorgen machen. Dann zog er sich an, verließ das Haus und kehrte nie wieder dorthin zurück.
    Der Tag verlief für Wassili Alexandrowitsch Rybnikow zunächst auf die gewohnte Weise, also furchtbar hektisch. Nachdem er mit einer Droschke bis zum Stadtzentrum gefahren war, ging er ausschließlich zu Fuß weiter und besuchte trotz seines Humpelns (der Stabskapitän zog das rechte Bein merklich nach) unglaublich viele Orte.
    Er begann mit der Kommandantenverwaltung, wo er einen Schreiber aus der Transportbuchhaltung aufsuchte und ihm mit feierlicher Miene einen vor drei Tagen geliehenen Rubel zurückzahlte. Dann ging er zum Simeonowskaja-Platz, in die Hauptverwaltung der Kosakentruppen, um sich nach seinem Gesuch zuerkundigen, das er bereits vor zwei Monaten eingereicht hatte und das in den Instanzen versackt war. Von dort begab er sich in die Militäreisenbahnverwaltung – er bewarb sich seit langem um die Stelle eines Archivars in der dortigen Abteilung für technische Zeichnungen. Außerdem wurde seine kleine, hektische Gestalt an diesem Tag in der Verwaltung des Generalinspekteurs der Artillerie in der Sacharewskaja gesehen, in der Reparaturverwaltung in der Morskaja und sogar im Verwundeten-Komitee in der Kirotschnaja (Rybnikow bemühte sich schon lange vergeblich um die behördliche Bestätigung seiner bei Laoyang erlittenen Kopfverletzung).
    Überall ließ sich der flinke Stabskapitän kurz sehen. Die Angestellten nickten dem alten Bekannten flüchtig zu und vertieften sich mit betontem Eifer wieder in ihre Papiere und dienstlichen Gespräche. Sie wußten aus Erfahrung, daß der Stabskapitän jedem, den er einmal am Wickel hatte, den letzten Nerv raubte.
    Ausschau haltend nach einem Opfer, wendete Rybnikow den Kopf mit dem kurzgeschnittenen Haar hin und her und schniefte mit seiner pflaumenförmigen Nase. Hatte er eines ausgewählt, setzte er sich mitten auf dessen Tisch, wippte mit dem Fuß im abgetragenen Stiefel, schwenkte die Arme und schwatzte munter drauflos: über den baldigen Sieg über die japanischen Affen, über seine militärischen Heldentaten, über das teure Leben in der Hauptstadt. Zum Teufel schicken konnte man ihn nicht – er war immerhin Offizier, in der Schlacht bei Mukden verwundet. Man bewirtete Rybnikow mit Tee, bot ihm Papirossy an, antwortete auf seine unsinnigen Fragen und schickte ihn rasch weiter in die nächste Abteilung, wo sich das Ganze wiederholte.
    In der dritten Nachmittagsstunde blickte der Stabskapitän, der wegen einer Versorgungsangelegenheit im Kontor des Sankt Petersburger Arsenals vorbeigeschaut hatte, plötzlich auf seine Armbanduhr mit dem glänzenden, beinahe spiegelnden Glas (die Geschichte dieses Chronometers, das er von einem gefangenenjapanischen Marquis geschenkt bekommen haben wollte, hatte er jedem schon hundertmal erzählt) und war auf einmal furchtbar in Eile. Er zwinkerte mit seinem gelbbraunen Auge und sagte zu den beiden Expedienten, die von seinem Geschwätz vollkommen zermürbt waren: »Na, da haben wir uns ja schön verplaudert. Aber nun muß ich leider gehen. Entre nous, ein Rendezvous mit einer schönen Dame. Tobende Leidenschaft und so weiter. Wie die Japaner sagen, man muß das Eisen ssmieden, solange es heiß ist.«
    Er lachte dröhnend und verabschiedete sich.
    »Komischer Kauz«, sagte seufzend der erste Expedient, ein blutjunger Hilfsfähnrich. »Aber selbst der hat eine gefunden.«
    »Er lügt, er will sich nur interessant machen«, beruhigte ihn der zweite, der denselben Dienstgrad besaß, jedoch wesentlich älter war. »Wer läßt sich schon mit so einem Marlbrouk 1 ein.«
     
    Der lebenserfahrene Expedient hatte recht. In der Wohnung in der Nadeshdinskaja, wohin Rybnikow sich vom Litejny-Prospekt auf langen Umwegen über Durchgangshöfe begab, erwartete
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