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Diamantene Kutsche

Diamantene Kutsche

Titel: Diamantene Kutsche
Autoren: B Akunin
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ihn keine schöne Dame, sondern ein junger Mann in einem gesprenkelten Jackett.
    »Wieso haben Sie so lange gebraucht?« rief der junge Mann nervös, nachdem er auf das verabredete Klopfzeichen hin (zweimal, dann dreimal, dann wieder zweimal) geöffnet hatte. »Sie sind Rybnikow, ja? Ich warte seit vierzig Minuten auf Sie!«
    »Ich mußte ein paar Haken schlagen. Mir schien irgendwie …«, antwortete Wassili Alexandrowitsch, wobei er durch die winzige Wohnung lief und sogar in die Toilette und hinter die Tür des Hintereingangs schaute. »Haben Sie es mitgebracht? Geben Sie her.«
    »Hier, aus Paris. Ich hatte Anordnung, nicht gleich nach Petersburg zu fahren, sondern erst nach Moskau, um …«
    »Ich weiß«, schnitt ihm der Stabskapitän das Wort ab und nahm zwei Kuverts entgegen – ein dickeres und ein ganz dünnes.
    »An der Grenze hatte ich keinerlei Probleme, geradezu erstaunlich. Meinen Koffer haben sie sich nicht einmal angesehen, geschweige denn abgeklopft. In Moskau allerdings wurde ich merkwürdig empfangen. Dieser Drossel war ziemlich unfreundlich«, berichtete der Gesprenkelte, der sich offenbar gern mitteilen wollte. »Ich riskiere schließlich meinen Kopf und habe also Anspruch darauf …«
    »Leben Sie wohl«, unterbrach ihn Wassili Alexandrowitsch erneut, nachdem er sich die beiden Kuverts nicht nur genau angesehen, sondern obendrein ihre Kanten gründlich abgetastet hatte. »Verlassen Sie die Wohnung nicht gleich nach mir. Warte Sie noch mindestens eine Stunde, bevor Sie gehen.«
    Der Stabskapitän trat aus dem Haus, drehte den Kopf nach links und rechts, zündete sich eine Papirossa an und lief in seinem gewohnten Gang – humpelnd, aber erstaunlich flink – die Straße entlang. Eine elektrische Straßenbahn ratterte vorbei. Rybnikow wechselte unvermittelt vom Trottoir auf die Fahrbahn, fiel in Trab und sprang gewandt auf die Plattform.
    »Aber Euer Wohlgeboren« – der Schaffner schüttelte tadelnd den Kopf –, »Sie benehmen sich ja wie ein Lausebengel. Sie hätten stürzen können … Mit Ihrem kranken Bein.«
    »Halb so schlimm«, erwiderte Rybnikow munter. »Wie sagt der russische Soldat? Kreuz an die Brust oder Kopf in den Busch. Und wenn ich sterben würde, das wäre kein Unglück. Ich bin Vollwaise, mir weint keiner nach … Nein, nein, Bruder«, lehnte er eine Fahrkarte ab, »ich fahr nur kurz mit.« Tatsächlich sprang er schon im nächsten Augenblick wieder ab.
    Er wich einer Droschke aus, tauchte unter der Schnauze einesAutos hindurch, das daraufhin hysterisch hupte, und humpelte flink in eine Gasse.
    Hier war es vollkommen menschenleer – keine Kutschen, keine Passanten. Der Stabskapitän öffnete beide Kuverts. Er warf einen raschen Blick in das dickere, registrierte eine höfliche Anrede und schnurgerade Reihen akkurat gezeichneter Hieroglyphen, las sie jedoch nicht gleich, sondern steckte das Kuvert in die Tasche. Dafür fand der zweite Brief, der in energischer Schnellschrift geschrieben war, die ganze Aufmerksamkeit des Fußgängers.
    Der Brief lautete wie folgt:
     
    Mein lieber Sohn!
    Ich bin zufrieden mit dir, aber die Zeit ist reif für den entscheidenden Schlag – diesmal nicht gegen das russische Hinterland, auch nicht gegen die russische Armee, sondern gegen Rußland selbst. Unsere Truppen haben alles getan, was sie konnten, doch sie sind ausgeblutet, und unsere Industrie ist am Ende. Die ZEIT ist leider nicht auf unserer Seite. Du mußt dafür sorgen, daß die ZEIT nicht weiter ein Verbündeter der Russen bleibt. Der Thron des Zaren muß wanken, damit ihm der Sinn nicht mehr nach Krieg steht. Unser Freund Oberst A. hat die gesamte Vorarbeit geleistet. Deine Aufgabe ist es, die von ihm abgesandte Fracht nach Moskau weiterzuleiten, an den dir bekannten Adressaten. Treib ihn ein wenig an. Länger als drei, vier Monate können wir uns nicht halten.
    Und noch eins. Dringend erforderlich sind ernsthafte Unterbrechungen des Eisenbahnverkehrs, um die Versorgung der Armee von Linewitsch zu behindern. Auf diese Weise können wir die unvermeidliche Katastrophe hinauszögern. Du schreibst, du hättest schon darüber nachgedacht und einige Ideen entwickelt. Wende sie an, die Zeit ist reif.
    Ich weiß, daß ich von dir fast Unmögliches verlange. Aber man hat dich ja gelehrt: Das fast Unmögliche ist möglich.
    Mutter läßt ausrichten, daß sie für dich betet.
     
    Nachdem Rybnikow den Brief gelesen hatte, zeigte sein breitknochiges Gesicht keinerlei Emotionen. Er riß ein
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