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Diamantene Kutsche

Diamantene Kutsche

Titel: Diamantene Kutsche
Autoren: B Akunin
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schön: eine zartes, pastellfarbenes Gesicht, riesige feuchte Augen unter einem hauchzarten Schleier, ein perlmuttern schimmerndes elegantes Reisekostüm.
    Die schöne Unbekannte zeigte gleichfalls keinerlei Interesse. Auf Rybnikows »Guten Tag« nickte sie kühl, warf einen einzigen Blick auf das Durchschnittsgesicht ihres Reisegefährten, sein sackartiges Militärjackett und seine braunen Stiefel und wandte sich zum Fenster.
    Die Abfahrtsglocke läutete zum zweitenmal.
    Die feingeschnittenen Nüstern der Reisenden erbebten, ihre Lippen flüsterten: »Ach, nur rasch, rasch!« – doch dieser Ausruf war eindeutig nicht an ihren Abteilgefährten gerichtet.
    Durch den Gang eilten trappelnd Zeitungsjungen – einer mit der respektablen »Wetschernaja Rossija«, einer mit dem Boulevardblatt »Russkoje Wetsche«. Beide schrien aus vollem Hals, bemüht, einander zu übertönen.
    »Traurige Nachrichten über das Drama im Japanischen Meer!« röhrte der erste. »Russische Flotte in Brand gesteckt und versenkt!«
    Der zweite brüllte: »Erste Gefallenenlisten! Viele geliebte Namen! Das ganze Land in Tränen!«
    »Gräfin N. im Evakostüm aus der Kutsche gesetzt! Räuber wußten von unterm Kleid versteckten Juwelen!«
    Der Stabskapitän kaufte eine »Wetschernaja Rossija« mit großemTrauerrand, die Dame eine »Russische Wetsche«, doch zum Lesen kamen sie vorerst nicht.
    Die Tür wurde aufgerissen, und ein riesiger Rosenstrauß, der kaum durch die Tür paßte, platzte herein und erfüllte das ganze Coupé sogleich mit öligem Duft.
    Über den Blüten prangte ein schöner Männerkopf mit gepflegtem spanischem Spitzbart und eingedrehtem Schnauzer. An der Krawatte des Mannes funkelte eine brillantbesetzte Nadel.
    »Wer ist das?« brüllte der Eingetretene mit einem Blick auf Rybnikow und zog drohend die schwarzen Brauen hoch, beruhigte sich aber augenblicklich, nachdem er den unscheinbaren Stabskapitän gemustert hatte, und beachtete ihn nicht weiter.
    »Lika!« rief er, fiel auf die Knie und warf der Dame den Rosenstrauß zu Füßen. »Ich liebe nur dich von ganzem Herzen! Verzeih mir, ich flehe dich an! Du kennst doch mein Temperament! Ich bin leicht entflammbar, ich bin doch Künstler!«
    Ja, das war er offenkundig. Das Publikum genierte ihn nicht im geringsten – außer dem hinter der »Wetschernaja Rossija« verschanzten Stabskapitän verfolgten auch Zuschauer aus dem Gang die spannende Szene, angelockt vom betäubenden Rosenduft und dem tönenden Lamento.
    Auch die schöne Dame zeigte keine Scheu vor Publikum.
    »Es ist aus, Astralow!« verkündete sie zornig, indem sie den Schleier zurückschlug und mit den Augen funkelte. »Und wage ja nicht, in Moskau aufzutauchen!« Sie stieß die flehend ausgestreckten Hände zurück. »Nein, nein, ich will nichts mehr hören!«
    Darauf reagierte der Reuige höchst sonderbar. Noch immer auf den Knien, kreuzte er die Hände auf der Brust und sang mit vollem, bezauberndem Tenor: »Una furtiva lacrima negli occhi suoi spuntò …«
    Die Dame erblaßte und hielt sich die Ohren zu, doch die göttliche Stimme erfüllte das ganze Coupé, ach, was heißt Coupé – der ganze Waggon war verstummt und lauschte.
    Donizettis betörende Melodie wurde unterbrochen vom dritten, anhaltenden und helltönenden Abfahrtssignal.
    Der Schaffner sah zur Tür herein. »Begleitpersonen bitte sofort aussteigen, wir fahren ab. Mein Herr, es ist Zeit!« Er berührte den Arm des wundervollen Sängers.
    Der bestürmte Rybnikow: »Überlassen Sie mir Ihre Fahrkarte! Ich zahle Ihnen hundert Rubel dafür! Sie retten damit ein gebrochenes Herz! Fünfhundert!«
    »Wagen Sie nicht, ihm die Fahrkarte zu überlassen!« schrie die Dame.
    »Ich kann nicht«, antwortete der Stabskapitän dem Künstler fest. »So gern ich es würde, aber ich reise in einer unaufschiebbaren Staatsangelegenheit.«
    Der Schaffner zog den tränenüberströmten Astralow in den Gang hinaus.
    Der Zug setzte sich in Bewegung. Vom Bahnsteig erklang ein verzweifelter Ruf: »Lika! Ich werde Hand an mich legen! Verzeih mir!«
    »Niemals!« rief die nunmehr errötete Reisende hinaus und schleuderte den prächtigen Rosenstrauß aus dem Fenster, wobei der ganze Tisch mit Blütenblättern übersät wurde.
    Ermattet sank sie in den samtenen Sitz zurück, schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte.
    »Sie sind ein edler Mann«, sagte sie. »Sie haben auf das Geld verzichtet! Ich bin Ihnen ja so dankbar! Ich wäre aus dem Fenster gesprungen,
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