Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Straße in die Stadt

Die Straße in die Stadt

Titel: Die Straße in die Stadt
Autoren: Natalia Ginzburg
Vom Netzwerk:
 

     
     
-

    D
    er Nini wohnte von klein auf bei uns. Er war der Sohn eines Cousins meines Vaters. Er hatte keine Eltern mehr und hätte beim Großvater leben sollen, aber der Großvater schlug ihn mit dem Besen, und dann rannte Nini weg und kam zu uns. Bis der Großvater starb, danach sagten sie zu ihm, daß er ganz bei uns bleiben könne.
    Ohne den Nini waren wir fünf Geschwister. Vor mir kam meine Schwester Azalea, die verheiratet war und in der Stadt wohnte. Nach mir kam mein Bruder Giovanni, dann gab es noch Gabriele und Vittorio. Es heißt, ein Haus mit vielen Kindern sei lustig, aber ich fand es gar nicht lustig bei uns zu Haus. Ich hoffte, ich würde bald heiraten und weggehen, wie Azalea es gemacht hatte. Azalea hatte mit siebzehn geheiratet. Ich war sechzehn, aber noch hatte niemand um meine Hand angehalten. Auch Giovanni und Nini wollten weggehen. Nur die Kleinen waren noch zufrieden.
    Unser Haus war ein rotes Haus mit einer Pergola davor. Wir hängten unsere Kleider über das Treppengeländer, weil wir viele waren und es nicht genug Schränke gab. »Sch, sch«, machte meine Mutter, um die Hühner aus der Küche zu verjagen, »sch, sch…« Das Grammophon lief den ganzen Tag, und da wir nur eine einzige Schallplatte besaßen, war das Lied immer dasselbe, und es ging so:
    Samtweiche Händeee
    Duftende Händeee
    Ihr macht mich trunkeen
    Trunken vor Glüück
     
    Dieses Lied, dessen Worte eine so seltsame Betonung hatten, gefiel uns allen sehr, und wir sangen es ständig, beim Aufstehen und beim Schlafengehen. Giovanni und der Nini schliefen in dem Zimmer neben meinem, und morgens weckten sie mich, indem sie dreimal an die Wand klopften, ich zog mich rasch an, und wir liefen in die Stadt. Der Weg dauerte über eine Stunde. In der Stadt angekommen, trennten wir uns wie drei, die sich nicht kannten. Ich traf eine Freundin und ging mit ihr unter den Bogengängen spazieren. Manchmal begegnete ich Azalea, mit roter Nase unter dem kleinen Schleier, die mich nicht grüßte, weil ich keinen Hut aufhatte.
    Mittags aß ich mit meiner Freundin Brot und Orangen am Flußufer, oder ich ging zu Azalea. Ich fand sie fast immer im Bett, wo sie Romane las oder rauchte oder am Telefon mit ihrem Geliebten stritt, weil sie eifersüchtig war, ohne im geringsten darauf zu achten, daß die Kinder da waren und sie hörten. Dann kam ihr Mann nach Hause, und auch mit ihm stritt sie. Ihr Mann war schon ziemlich alt, mit Bart und Brille. Er hörte ihr kaum zu und las Zeitung, wobei er seufzte und sich am Kopf kratzte. »Gott steh mir bei«, murmelte er ab und zu halblaut. Ottavia, das vierzehnjährige Dienstmädchen, mit einem dicken, struppigen schwarzen Zopf, das kleine Kind auf dem Arm, sagte an der Tür: »Gnädige Frau, es ist angerichtet.« Azalea zog ihre Strümpfe an, gähnte, betrachtete lange ihre Beine, und dann gingen wir zu Tisch. Wenn das Telefon läutete, errötete Azalea, zerdrückte ihre Serviette, und Ottavias Stimme sagte im Nebenzimmer:
    »Die gnädige Frau ist beschäftigt, sie ruft später zurück.« Nach dem Essen ging ihr Mann wieder fort, und Azalea legte sich wieder ins Bett und schlief sofort ein. Ihr Gesicht wurde dann liebevoll und ruhig. Das Telefon klingelte währenddessen, die Türen schlugen, die Kinder schrien, aber Azalea schlief tief atmend weiter. Ottavia räumte den Tisch ab und fragte mich ganz erschrocken, was passieren könnte, wenn der ›gnädige Herr‹ etwas erführe. Doch dann sagte sie halblaut mit bitterem Lächeln zu mir, der ›gnädige Herr‹ habe übrigens selber auch jemanden. Ich ging. Auf einer Bank im Park wartete ich auf den Abend. Das Orchester des Cafés spielte, und ich betrachtete mit meiner Freundin die Kleider der Frauen, die vorüberkamen, und ich sah auch den Nini und Giovanni vorbeigehen, aber wir redeten nicht miteinander. Ich traf sie draußen vor der Stadt auf der staubigen Straße wieder, während in den Häusern hinter uns die Lichter aufflammten und das Orchester des Cafés fröhlicher und lauter spielte. Wir gingen quer über Land, am Fluß und den Bäumen entlang. Man kam nach Hause. Ich haßte unser Haus. Ich haßte die bittere grüne Gemüsesuppe, die meine Mutter uns jeden Abend vorsetzte, und ich haßte meine Mutter. Ich hätte mich geschämt, wenn ich ihr in der Stadt begegnet wäre. Aber sie kam seit vielen Jahren nicht mehr in die Stadt und wirkte wie eine Bäuerin. Sie hatte graue, zerraufte Haare, und vorne fehlten ihr einige Zähne. »Du siehst aus
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher