Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Diamantene Kutsche

Diamantene Kutsche

Titel: Diamantene Kutsche
Autoren: B Akunin
Vom Netzwerk:
erlauben Sie, daß ich die Tür schließe. Laut Instruktion ist der Aufenthalt hier streng verboten.«
    »Recht so, Bruder«, lobte Rybnikow. »Wachsamkeit und soweiter. Ich wollte eigentlich nur eine rauchen. Aber ich gehe in den Gang. Oder aufs Klosett.«
    Tatsächlich begab er sich zur Toilette, die in der dritten Klasse eng und nicht eben sauber war.
    Rybnikow schloß sich ein und beugte sich aus dem Fenster.
    Der Zug fuhr gerade auf eine vorsintflutliche, noch aus Kleinmichels Zeiten stammende Brücke über einen schmalen Fluß.
    Rybnikow trat auf den Spüler – am Grunde des Toilettenbeckens öffnete sich ein rundes Loch, durch das man die Schwellen vorüberhuschen sah.
    Der Stabskapitän drückte mit dem Finger auf einen gut getarnten Knopf an der schmalen Lederröhre und schob diese in das Loch – sie paßte so knapp hinein, daß er ein wenig nachschieben mußte.
    Als das Etui im Loch verschwunden war, hielt Rybnikow rasch die Hände unter den Wasserhahn und trat in den Gang hinaus, wobei er sich das Wasser abschüttelte.
    Kurz darauf war er wieder in seinem Coupé.
    Die Lidina maß ihn mit einem strengen Blick – sie hatte ihm den Fauxpas mit dem »natürlichen Bedürfnis« noch nicht verziehen – und wollte sich schon abwenden, da schrie sie plötzlich auf: »Ihr geheimes Etui! Sie haben es wohl auf der Toilette vergessen?«
    Rybnikows Gesicht spiegelte Mißmut, aber er kam nicht mehr dazu, ihr zu antworten.
    Ein gewaltiges Getöse ertönte, der Waggon schwankte.
    Der Stabskapitän stürzte zum Fenster.
    Auch aus den anderen Fenstern hingen Köpfe. Alle blickten zurück.
    Die Strecke machte an dieser Stelle einen kleinen Bogen, und Gleise, Fluß und Brücke waren gut zu überblicken.
    Genauer gesagt, das, was davon noch übrig war.
    Die Brücke war exakt in der Mitte eingestürzt, und zwar genau in dem Augenblick, als der schwere Militärtransport sie passierte.Die Unglücksstelle bot ein gräßliches Bild: Eine Wasser- und Dampfsäule über den ins Wasser gestürzten Lokomotiven, aufgebäumte Güterwagen, von denen massive Stahlkonstruktionen gefallen waren, und das Schlimmste – in die Tiefe stürzende Menschen.
    Glikerija, an Rybnikows Schulter gepreßt, kreischte gellend. Auch andere Passagiere schrien.
    Der letzte Waggon des Militärzuges, in dem vermutlich Offiziere saßen, stand schwankend am Rand des Abgrunds, einige Männer konnten sogar noch aus dem Fenster springen, doch dann brach ein Stützpfeiler, und auch dieser Wagen stürzte ab, direkt in den Haufen verbogenen Metalls, der aus dem Wasser ragte.
    »Mein Gott, mein Gott!« rief die Lidina hysterisch. »Was gaffen Sie so? Man muß doch etwas tun!«
    Sie rannte in den Gang. Rybnikow zögerte einen Moment, dann folgte er ihr.
    »Halten Sie den Zug an!« attackierte die exaltierte Dame den Oberschaffner, der in Richtung Zugspitze lief. »Dort sind Verwundete! Ertrinkende! Man muß sie retten!«
    Sie packte ihn am Ärmel, so fest, daß der Eisenbahner stehenbleiben mußte.
    »Was heißt hier retten! Wen denn retten? Das ist nur noch Brei!« Der leichenblasse Chef der Zugbrigade versuchte sich loszureißen. »Was können wir schon tun? Wir müssen zur Station, Meldung machen.«
    Glikerija hörte ihm gar nicht zu, sie hämmerte mit der Faust auf seine Brust ein.
    »Sie sterben, und wir fahren weg? Halten Sie an! Ich verlange es!« kreischte sie. »Ziehen Sie Ihre, wie heißt das gleich, Ihre Notbremse!«
    Auf das Geschrei trat ein schwarzhaariger Herr mit eingewichstem Schnurrbart aus dem Nachbarcoupé. Als er sah, daß derZugchef schwankte, rief er drohend: »Ich werd dir helfen, von wegen anhalten! Ich werde in Moskau äußerst dringend erwartet!«
    Rybnikow faßte sanft nach dem Arm der Lidina und sagte beruhigend: »Meine Dame, bitte. Natürlich ist das ein schreckliches Unglück, aber die einzige Hilfe, die wir leisten können, ist, so schnell wie möglich zu telegrafieren, von der nächsten …«
    »Ach, zum Teufel mit Ihnen allen!« rief Glikerija.
    Sie stürzte zur Notbremse und zog daran.
    Alle, die im Gang standen, purzelten zu Boden. Der Zug machte einen Satz und rutschte mit scheußlichem Kreischen über die Gleise. Von allen Seiten tönte Geheul und Geschrei – die Reisenden glaubten, auch ihr Zug sei verunglückt.
    Als erster kam der Schwarzhaarige zu sich, der nicht hingefallen, sondern nur mit dem Kopf gegen den Türrahmen geprallt war.
    Mit dem Schrei »Ich brrring dich um, du Miststück!« stürzte er sich auf die durch ihren
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher