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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze
Autoren: Javier Marías
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M an sollte niemals etwas erzählen noch Angaben machen oder Geschichten beisteuern oder Anlaß dazu geben, daß die Leute sich an Menschen erinnern, die niemals existiert, die niemals ihren Fuß auf die Erde gesetzt oder die Welt durchschritten haben oder wohl gewesen sind, aber sich bereits halbwegs in Sicherheit befanden im unvollkommenen, ungewissen Vergessen. Erzählen ist fast immer ein Geschenk, sogar wenn die Erzählung Gift enthält und einträufelt, es ist auch ein Band und ein Vertrauensbeweis, und selten ist das Vertrauen, das nicht früher oder später verraten wird, selten das Band, das sich nicht verwickelt oder verknotet, und so drückt es am Ende, und man muß das Messer oder die Schneide ziehen, um es zu durchtrennen. Wieviel von meinem ist unversehrt, von dem Vertrauen, das einer geschenkt hat, der, wie ich, so sehr an seinen Instinkt geglaubt hat, aber ihm nicht immer gefolgt und zu lange naiv gewesen ist? (Schon weniger, schon weniger, aber so etwas verringert sich sehr langsam.) Unversehrt ist nach wie vor das Vertrauen, das ich in zwei Freunde gesetzt habe, die es noch immer besitzen, anders als das Vertrauen, das ich in weitere zehn gesetzt habe, die es verloren oder zerstört haben; das wenige, das ich meinem Vater geschenkt habe, und das schamhafte, das ich meiner Mutter geschenkt habe, einander sehr ähnlich, wenn nicht ein und dasselbe, das in meine Mutter gesetzte dauerte überdies nicht lange, sie kann es nicht mehr enttäuschen oder nur postum, wenn ich eines Tages eine böse Entdeckung machen und etwas Verborgenes nicht länger verborgen bleiben sollte; nicht erhalten ist das in meine Schwester oder irgendeine Freundin oder Geliebte oder vergangene, gegenwärtige oder imaginäre Ehefrau (gewöhnlich ist die Schwester die erste Ehefrau, die Kind-Ehefrau), es scheint unausweichlich zu sein, daß man das, was man weiß oder gesehen hat, am Ende gegen den geliebten Menschen oder Ehepartner benutzt – oder gegen den, der nur vorübergehend Fleisch und Wärme bot –, gegen den, der Enthüllungen machte und einen Zeugen für seine Schwächen und Kümmernisse zuließ und sich in Vertraulichkeiten erging oder einfach auf dem Kissen zerstreut mit lauter Stimme seinen Erinnerungen überließ, ohne auf die Gefahren zu achten oder auf das willkürliche Auge, das uns immer betrachtet, oder auf das selektive, heimliche Ohr, das uns zuhört (oft ist es nichts Schlimmes, ein nur häuslicher Gebrauch, defensiv und aus der Bedrängnis heraus, um sich, wenn man lange streitet, aus einem dialektischen Dilemma zu helfen, ein argumentativer Gebrauch).
    Die Verletzung des Vertrauens ist auch das: nicht nur indiskret sein und Schaden oder Verderben damit verursachen, nicht nur auf diese unerlaubte Waffe zurückgreifen, wenn der Wind sich gedreht hat und nun dem ins Gesicht weht, der erzählt und Einblick geboten hat – der es jetzt bereut und jetzt leugnet und verwischt und trübt und es auslöschen möchte und schweigt –, sondern auch Vorteil ziehen aus dem Wissen, das man durch Schwäche, Unachtsamkeit oder Großzügigkeit des anderen erhalten hat, ohne den Weg zu respektieren oder zu berücksichtigen, auf dem man erfahren hat, was man jetzt ausspielt oder verfälscht oder auch nur ausgesprochen hat, das genügt, damit es entstellt im Raum steht: wenn es die Geständnisse einer verliebten Nacht oder eines verzweifelten Tages waren, einer schuldbeladenen Abenddämmerung oder eines trostlosen Erwachens oder der trunkenen Redseligkeit schlafloser Stunden: eine Nacht oder ein Tag, an dem jemand sprach, als gäbe es keine Zukunft über diese Nacht oder diesen Tag hinaus und als würde seine gelöste Zunge mit ihnen sterben, ohne zu bedenken, daß immer noch mehr kommt, immer etwas aussteht, ein wenig mehr, eine Minute, die Lanze, eine Sekunde, das Fieber, und noch eine Sekunde, der Traum – die Lanze, das Fieber, mein Schmerz und das Wort, der Traum – und auch die endlose Zeit, die nicht einmal nach unserem Ende zögert oder den Schritt verlangsamt und weiter hinzufügt und spricht, murmelt und nachspürt und erzählt, obwohl wir nicht mehr hören und verstummt sind. Schweigen, schweigen ist das hohe Ziel, das niemand erreicht, nicht einmal nach seinem Tod, und ich am allerwenigsten, der ich oft erzählt habe, noch dazu schriftlich in Berichten, der ich mehr noch schaue und zuhöre, dafür jedoch fast niemals mehr etwas frage. Nein, ich sollte nichts erzählen oder hören, denn es wird nie in meiner
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