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Die Insel der verlorenen Kinder

Die Insel der verlorenen Kinder

Titel: Die Insel der verlorenen Kinder
Autoren: Jennifer McMahon
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    Prolog
24.   Juni 2006
    «Untertauchen, wir gehen auf Tauchfahrt!», schrie Suzy, die Hand fest um das rissige rot-weiße Steuerrad des alten Chevrolets gelegt. Sie rüttelte daran, riss es hin und her und zerrte am Blinkerhebel, damit das Schiff abtauchte.
    Sie wusste, dass Unterseeboote mit Hilfe von Luft aufsteigen oder sinken, und ebenso wusste sie, was sie unter Wasser sehen würde: den Tintenfisch, das Korallenriff und die Haie, die sie mit ihrem grinsenden Maul voll scharfer Zähne angreifen würden. Sie war schon Tausende von Malen unten gewesen, und es war genau wie in dem Lied über den Tintenfischgarten im Schatten
– Octopus’s garden in the shade
–, das ihre Mutter manchmal sang. Aber auf dem Weg zum Garten musste sie immer wieder vor Haien und feindlichen U-Booten mit ihren Torpedos fliehen. Sie wusste, was es hieß, in vollständige Dunkelheit abzutauchen.
    Mit Suzy passierte manchmal etwas, das wie ein Gewitter im Kopf war – so jedenfalls erklärten das ihre Eltern. Dann verlor sie immer das Bewusstsein, schlug wild um sich und wachte verwirrt auf. Anfälle. Unwetter im Kopf. Blitz und Donner. Sie trug ein silbernes Armband mit ihrem Namen und dem seltsamen roten Bildchen einer Schlange, die wie eine Spirale aussah; und auf der Rückseite des Bandes stand das Wort EPILEPSIE. Sie nahm jeden Tag Medikamente ein, und zwar kleine Tabletten.
    Suzy sollte eigentlich nicht beim alten Wagen oder dem Stapel halbverfaulter Bretter hinter Grandmas Haus spielen. Sie wusste, dass der Chevrolet Impala, dieses Cabrio mit der weißen Zierleiste links und rechts, früher tatsächlich einmal gefahren worden war; damals hatten die Stoßdämpfer so strahlend geglänzt, dass die Straße sich in ihnen spiegelte. Auch das Radio hatte damals noch funktioniert. Der Motor hatte leise gebrummt. Bei Regen hatte man das weiße Verdeck hochgeklappt, das war wie so eine Art lustiger Regenschirm gewesen.
    Jetzt aber ermahnten ihre Eltern sie, nicht dort zu spielen:
Das ist gefährlich
, sagten sie.
Du könntest dich verletzen. Spiel nicht dort.
Aber der alte Wagen rief nach ihr, ebenso wie der Tintenfisch; und die Mäuse, die in dem Loch im Sitz lebten, riefen sie auch. Die kleinen Mäusebabys, noch ganz blind und rosig, riefen aus ihrem Strohnest nach ihr, das in die verrostete Federung eingebettet war, ein Chor fiepender Stimmchen, die zwischen winzigen orangegelben Zähnchen hervorkamen. Suzy hatte den zerrissenen rot-weißen Sitzbezug zurückgezogen und die Babys dort zappeln sehen, wie die Fingerspitzen nervöser Leute. Seitdem brachte sie der Mäusemama immer etwas Leckeres mit: kleine Käsestückchen, Erdnussbutter-Cracker und Vogelfutter, das sie aus Grandma Laura Lees Vogelfutterspendern stibitzte.
    Suzy wusste, was Mäuse mochten. Und das hier war nicht einfach irgendeine Maus. Sie war die geheime Unterwasserperiskop-Mama-Maus und Suzys Erster Offizier. Sie war mit dem Tintenfisch befreundet, verriet Suzy, wie sie die Haie überlisten konnte, und hatte sieben madenähnlicheMäusebabys im Bauch getragen und zur Welt gebracht. Die Babymäuse quiekten nun laut, als das Boot immer tiefer ins Meer eintauchte, dessen Wasser sie von allen Seiten tintenschwarz umschloss.
    Suzy schob sich die dichten blonden Ringellocken aus dem Gesicht und spähte durch die gesprungene Windschutzscheibe – die Bullaugen – nach draußen. Laura Lee, die Mama von Suzys eigener Mom, nannte Suzy «Shirley Temple» und machte stundenlang mit ihrem Haar herum. Sie schenkte ihr Haarbänder und Schleifchen und kaufte ihr niedliche, hübsche Kleidchen, die Suzy prompt an Dornengestrüpp und Stacheldrahtzäunen zerriss, bis man nur noch Puppenverbände oder Indianerstirnbänder davon machen konnte.
    Aber an diesem Nachmittag spielte sie, sie würde mit dem U-Boot tauchen und zum Tee in den Tintenfischgarten fahren, bevor Daddy sie suchen kam. Und so ging sie auf Tauchfahrt, immer auf der Flucht vor den Haien.
     
    «Hallo du!»
    Suzy zuckte zusammen, als sie die Stimme hörte. Es war die müde Stimme einer Landratte – eines Mannes, der eindeutig keine Ahnung hatte, dass Suzy sich inzwischen meilenweit unter Wasser befand und ihn im Grunde gar nicht hören konnte. Suzy durfte eigentlich nicht mit Fremden reden. Sie wusste, was einem sonst passieren konnte. Dann konnte es einem nämlich so ergehen wie Ernestine Florucci, die mit Suzy in die zweite Klasse ging, aber jetzt vielleicht für immer verschwunden war. Obwohl sie in Vermont lebten –
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