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Ruf mich bei Deinem Namen

Ruf mich bei Deinem Namen

Titel: Ruf mich bei Deinem Namen
Autoren: Andre Aciman
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scheute auch er den direkten Blick.
    »Und Anchise?«, fragte er schließlich.
    »Wir haben ihn an den Krebs verloren, den Ärmsten. Ich habe immer gedacht, er wäre uralt. Er war noch nicht mal fünfzig.«
    »Auch er hat das alles hier geliebt. Die Pfropfreiser, den Obstgarten …«
    »Er ist im Zimmer meines Großvaters gestorben.«
    Wieder Schweigen. In meinem alten Zimmer, hatte ich eigentlich sagen wollen.
    »Bist du froh, dass du wieder da bist?«
    Er hatte meine Frage schneller durchschaut als ich.
    »Bist du froh, dass ich wieder da bin?«, fragte er zurück.
    Ich sah ihn an – entwaffnet, aber ohne Angst. Wie Menschen, die leicht erröten, ohne sich dessen zu schämen, hütete ich mich, dieses Gefühl zu ersticken,
ließ mich von ihm tragen.
    »Das weißt du doch. Vielleicht mehr, als gut für mich ist.«
    »Ich auch.«
    Damit war alles gesagt.
    »Komm, ich zeige dir, wo wir einen Teil von Vaters Asche begraben haben.«
    Wir gingen über die Hintertreppe in den Garten, wo früher der Frühstückstisch gestanden hatte. »Das war der Lieblingsplatz meines Vaters, sein Geisterplatz, sage ich
immer. Mein Platz war dort drüben, weißt du noch?« Ich deutete auf die Stelle am Pool, wo mein Tisch gewesen war.
    »Hatte ich auch einen Platz?«, fragte er mit einem angedeuteten Lächeln.
    »Du wirst immer einen haben.«
    Ich hätte ihm gern gesagt, dass der Pool, der Garten, das Haus, der Tennisplatz, die Peripherie des Paradieses, das ganze Grundstück, immer sein
Geisterplatz sein würde. Statt dessen deutete ich nach oben auf die Balkontür zu seinem Zimmer. Deine Augen sind für immer dort, hätte ich gern gesagt, in den dünnen
Vorhängen gefangen, und blicken von meinem Zimmer, wo heute niemand mehr schläft, nach unten. Wenn ein leichter Wind die Vorhänge bläht und ich hochschaue oder vor dem Zimmer
auf dem Balkon stehe, ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass du da bist und aus deiner Welt in meine Welt blickst und wie in jener Nacht, als ich dich auf dem Felsen fand, sagst: Ich war glücklich hier . Du bist viele tausend Meilen weit weg, aber kaum sehe ich dieses Fenster, muss ich an eine Badehose denken, ein rasch übergeworfenes Hemd,
Arme, die sich auf das Geländer stützen, und plötzlich stehst du da und zündest dir die erste Zigarette des Tages an – heute vor zwanzig Jahren. Solange es dieses
Haus gibt, wird dies dein Geisterplatz sein – und auch der meine.
    Wir standen ein paar Sekunden da, wo mein Vater und ich einst über Oliver gesprochen hatten. Jetzt sprachen er und ich hier über meinen Vater. Morgen werde ich an diesen Augenblick
zurückdenken und ihre Geister im Dämmergrauen Zwiesprache halten lassen.
    »Er hätte sich so etwas gewünscht, zumal an einem so herrlichen Sommertag.«
    »Ja, das glaube ich auch. Wo liegt die übrige Asche?« »Hier und da. Im Hudson, in der Ägäis, im Toten Meer. Aber hierher komme ich, wenn ich mit ihm zusammen
sein will.«
    Er sagte nichts. Es gab nichts zu sagen.
    »Komm, ich gehe mit dir nach San Giacomo, ehe du es dir anders überlegst«, sagte ich schließlich. »Wir haben noch Zeit vor dem Lunch. Weißt du den Weg
noch?«
    »Ich weiß den Weg.«
    »Ich weiß den Weg«, wiederholte ich.
    Er sah mich lächelnd an. Es machte mich froh – vielleicht weil ich wusste, dass er mich aufzog.
    Zwanzig Jahre waren gestern, und Gestern war heute Vormittag, und der Vormittag schien Lichtjahre entfernt.
    »Ich bin wie du«, sagte er. »Ich weiß noch alles.«
    Ich stutzte sekundenlang. Wenn du noch alles weißt, hätte ich gern gesagt, und wenn du wirklich bist wie ich, dann wirst du dich, wenn du morgen abreist, ehe du die Tür des Taxis
zuschlägst, wenn du dich schon von allen anderen verabschiedet hast und es in diesem Leben nichts mehr zu sagen gibt, nur dieses eine Mal mir zuwenden, vielleicht auch nur im Spaß oder
als Nachgedanke – ein Gedanke, der mir alles bedeutet hätte, als wir zusammen waren – und wirst mir, wie damals, ins Gesicht sehen, meinen Blick festhalten und mich bei
deinem Namen rufen.

Die Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel Call Me by Your Name
bei Farrar, Straus and Giroux, New York.
© 2007 by Andrè Aciman
    Alle Rechte vorbehalten
Copyright © 2008 by Kein & Aber AG Zürich – Berlin
Coverfoto: Herbert List, Ringende Jungen II, Ostsee 1933, © M. Scheler, Herbert List Estate,
Hamburg, Germany
Autorenfoto: Sigrid Estrada
eBook ISBN 978-3-0369-9192-4
    www.keinundaber.ch
    Dieser Text und dieses
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