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Ruf mich bei Deinem Namen

Ruf mich bei Deinem Namen

Titel: Ruf mich bei Deinem Namen
Autoren: Andre Aciman
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Gitarre genommen, hast angefangen zu spielen und aus
heiterem Himmel auch zu singen. Wie sie gegafft haben! Sämtliche Junkies dieser Welt haben sich mit Schafsaugen deinen Händel angehört. Eine der Holländerinnen war total neben
der Spur. Du wolltest sie mit ins Hotel nehmen, und sie war einverstanden. Was für eine Nacht! Zum Schluss saßen wir auf der Terrasse eines geschlossenen Caffès hinter der Piazza,
nur du und ich und das Mädchen, und sahen zu, wie die Sonne aufging.«
    Er sah mich an. »Ich freue mich sehr, dass du gekommen bist.«
    »Ich freue mich auch.«
    »Darf ich dich was fragen?«
    Warum war ich plötzlich nervös? »Schieß los.«
    »Würdest du noch einmal anfangen, wenn du könntest?«
    »Warum fragst du?«
    »Darum. Komm, sag was.«
    »Würde ich noch einmal anfangen, wenn ich könnte? Sofort. Aber ich hatte zwei Martinis und bestelle jetzt einen dritten.«
    Er lächelte. Ich hätte ihm nun wohl dieselbe Frage stellen müssen, aber ich wollte ihn nicht in Verlegenheit bringen. Das war mein Oliver – der Oliver, der genauso
dachte wie ich.
    »Dich hier zu sehen – das ist so, als ob man aus einem langjährigen Koma aufwacht. Du siehst dich um und stellst fest, dass deine Frau dich verlassen hat, deine Kinder,
deren Kindheit du verpasst hast, sind erwachsen, manche verheiratet, deine Eltern sind längst tot, du hast keine Freunde, und das Gesichtchen, das dich durch eine Brille anschaut, gehört
deinem Enkel, der mitgenommen wurde, um Großpapa nach seinem langen Schlaf zu begrüßen. Dein Gesicht im Spiegel ist so weiß wie das von Rip Van Winkle. Nur: Du bist immer
noch sehr viel jünger als die um dich Versammelten. Und wollte man das Gleichnis noch ein paar Jahre weiterführen, könnte ich aufwachen und jünger als mein älterer Sohn
sein.«
    »Und was sagt das über dein Leben aus?«
    »Zum Teil – aber nur zum Teil – war es tatsächlich ein Koma, aber ich möchte es eher ein paralleles Leben nennen, das klingt besser. Das Problem ist, dass
wir fast alle mehr als zwei parallele Leben führen.«
    Vielleicht war es der Alkohol, vielleicht war es die Wahrheit, vielleicht wollte ich nicht, dass unser Gespräch ins Abstrakte abdriftete, aber ich hatte das Gefühl, es sagen zu
müssen, weil dies der richtige Augenblick war, weil ich plötzlich begriff, dass ich deshalb gekommen war. »Du bist der einzige Mensch, von dem ich Abschied nehmen möchte, wenn
ich sterbe, weil nur dann das, was ich mein Leben nenne, einen Sinn ergibt. Und sollte ich erfahren, dass du gestorben bist, wird mein Leben, so wie ich es kenne, das Ich, das jetzt mit dir
spricht, aufhören zu existieren. Manchmal überkommt mich diese schreckliche Vorstellung, dass ich in unserem Haus in B. aufwache und aufs Meer hinaussehe und die Wellen mir die Nachricht
bringen: Er ist letzte Nacht gestorben . Wir haben so viel versäumt. Es war ein Koma. Morgen kehre ich in mein Koma zurück und du in deins. Verzeih, ich
wollte dich nicht kränken. Bei dir ist es bestimmt kein Koma.«
    »Nein, ein paralleles Leben.«
    Alle Kümmernisse meines Lebens schienen in diesem einen großen Kummer zusammenzufließen. Ich musste sehr dagegen ankämpfen, und wenn er es nicht merkte, dann wahrscheinlich
deshalb, weil er selbst nicht immun dagegen war.
    Aus einer Laune heraus fragte ich ihn, ob er Thomas Hardys Roman The Well-Beloved gelesen hätte, was er verneinte. Er handelt von einem Mann, der sich in
eine Frau verliebt, die ihn verlässt und Jahre später stirbt. Er sucht ihr Haus auf und lernt ihre Tochter kennen, in die er sich verliebt, und nachdem er auch sie verloren hat, trifft er
viele Jahre später zufällig ihre Tochter, in die er sich ebenfalls verliebt. »Stirbt so etwas von selbst, oder braucht manches Generationen, um sich zu regeln?«
    »Ich wünsche mir keinen meiner Söhne in deinem Bett, genauso wenig wie deine – solltest du welche haben – in dem von meinen Söhnen.«
    Wir lachten ein wenig. »Aber wie ist es mit unseren Vätern?«
    Er überlegte kurz, dann lächelte er.
    »Eins möchte ich auf keinen Fall: Einen Brief von deinem Sohn bekommen mit der traurigen Nachricht und dem Zusatz: I m Übrigen lege ich eine gerahmte
Postkarte bei, die mein Vater mich bat Ihnen zurückzugeben . Und ebenso wenig möchte ich eine Antwort bekommen, in der es heißt: K ommen Sie, wann Sie
mögen, er hätte gewiss gewollt, dass Sie in seinem Zimmer schlafen . Versprichst du mir das?«
    »Versprochen.«
    »Was
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