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Ruf mich bei Deinem Namen

Ruf mich bei Deinem Namen

Titel: Ruf mich bei Deinem Namen
Autoren: Andre Aciman
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senkte. Wir nannten dieses lästige Ritual die Mittagsplage – und es
dauerte nicht lange, bis die meisten unserer Sommergäste den Ausdruck übernommen hatten.
    Vielleicht begann es bald nach seiner Ankunft, bei einer jener strapaziösen Mahlzeiten, als er neben mir saß und ich sah, dass seine Handflächen –
trotz der leichten Bräune von einem kurzen Aufenthalt in Sizilien im Frühsommer – die gleiche Farbe hatten wie die helle weiche Haut seiner Sohlen, der Hals, die Unterarme an
den Stellen, an die nicht viel Sonne kam. Fast ein helles Pink, glatt und glänzend wie ein Eidechsenbauch. Intim, züchtig, unberührt, wie verlegene Röte auf dem Gesicht eines
Athleten oder ein Sonnenuntergang nach einem Gewitter. Es verriet mir Dinge über ihn, nach denen ich nie zu fragen gewagt hätte.
    Vielleicht begann es in jenen endlosen Stunden nach dem Lunch, wenn alle nur in Badesachen im Haus und draußen faul herumlagen und die Zeit totschlugen, bis jemand den Vorschlag machte,
zum Schwimmen an die Klippen herunterzugehen. Verwandte, Vettern, Nachbarn, Freunde, Freunde von Freunden, Kollegen, praktisch alle, denen es einfiel, bei uns anzuklopfen und zu fragen, ob sie
unseren Tennisplatz benutzen könnten – alle waren herzlich bei uns willkommen, um zu faulenzen, zu schwimmen, zu essen, und wenn sie lange genug blieben, das Gästehaus zu
nutzen.
    Oder vielleicht begann es am Strand. Oder auf dem Tennisplatz. Oder auf jenem ersten Spaziergang an seinem ersten Tag, als man mich gebeten hatte, ihm das Haus und die Umgebung
zu zeigen und ich ihn durch das alte schmiedeeiserne Tor über das große unbebaute Gelände im Hinterland bis zur stillgelegten Bahnstrecke führte, die einmal B. und N. verbunden
hatte. »Gibt es irgendwo auch einen stillgelegten Bahnhof?«, fragte er, in der sengenden Sonne durch die Bäume spähend und offenbar bemüht, dem Sohn des Hausherrn die
passende Frage zu stellen. »Nein, einen Bahnhof hat es nie gegeben. Die Bahn hielt auf Zuruf.« Der Zug interessierte ihn. Die Spur sei erstaunlich schmal, fand er. Es sei ein Zug mit
zwei Waggons gewesen, erklärte ich, die das königliche Wappen trugen. Jetzt wohnten seit langem Zigeuner darin. Als meine Mutter hier als junges Mädchen den Sommer verbracht hatte,
waren sie schon da. Die Zigeuner hatten die beiden Waggons von den Gleisen weg weiter ins Land hinein gezogen. Wenn er sie sehen wollte …? »Später. Vielleicht.«
Höfliches Desinteresse, als hätte er meinen unangebrachten Eifer, sich bei ihm einzuschmeicheln, durchschaut und mich kurzerhand abblitzen lassen.
    Aber es traf mich.
    Stattdessen sagte er, dass er in einer Bank in B. ein Konto eröffnen und dann die Übersetzerin aufsuchen wolle, die sein italienischer Verlag engagiert hatte.
    Ich beschloss, ihn mit dem Fahrrad hinzubringen.
    Das Gespräch gedieh im Fahren nicht besser als im Gehen. Zwischendurch machten wir Halt, um etwas zu trinken. Die bar-tabaccheria war stockfinster und leer.
Der Besitzer war dabei, mit einer starken Ammoniaklösung den Boden zu wischen. Wir flüchteten schleunigst wieder an die frische Luft.
    Eine einsame Amsel auf einer Pinie sang ein paar Töne, die sofort vom Lärmen der Zikaden übertönt wurden. Ich nahm einen tiefen Schluck aus einer großen Flasche
Mineralwasser, reichte sie ihm und trank dann abermals. Ein wenig Wasser schüttete ich mir in die Hand, benetzte mir das Gesicht und fuhr mir mit den nassen Fingern durchs Haar. Das Wasser war
nicht kalt genug, nicht prickelnd genug und hinterließ eine Ahnung von Durst.
    Was man hier so mache, wollte er wissen.
    Nichts. Man wartet darauf, dass der Sommer zu Ende geht.
    Und im Winter?
    Ich musste über die Antwort lächeln, die mir auf der Zunge lag. Er erriet, worauf ich hinauswollte. »Sag nichts. Man wartet darauf, dass es wieder Sommer wird.«
    Wie schön, dass jemand meine Gedanken lesen konnte. Er würde das mit der Mittagsplage schneller durchschauen als seine Vorgänger.
    »Im Winter wird es hier sehr grau und dunkel. Wir kommen nur über Weihnachten her, die übrige Zeit ist es eine Geisterstadt.«
    »Und was macht ihr zu Weihnachten außer Kastanienrösten und Eierpunschtrinken?«, frotzelte er.
    Wieder lächelte ich. Er begriff, sagte aber nichts. Wir lachten.
    Womit ich mich beschäftige, wollte er wissen. Mit Tennisspielen. Schwimmen. Ausgehen. Joggen. Musik transkribieren. Lesen.
    Ich jogge auch, sagte er. Morgens in aller Frühe. Wo man hier laufen könne.
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