Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ruf mich bei Deinem Namen

Ruf mich bei Deinem Namen

Titel: Ruf mich bei Deinem Namen
Autoren: Andre Aciman
Vom Netzwerk:
Taubstummer, der nicht mal die Zeichensprache beherrscht. Ich
stotterte alles Mögliche, um nicht sagen zu müssen, was mich in Wahrheit beschäftigte. So lange ich Luft genug hatte, um Worte herauszubringen, kam ich damit einigermaßen
durch. Schweigen hätte mich vermutlich verraten – und deshalb war dem selbst der blühendste Unsinn vorzuziehen. Mehr noch als mein Schweigen aber hätte mich wohl der
verzweifelte Versuch entlarvt, mich vor den anderen zum Sprechen zu überwinden.
    Der hilflose Zorn auf mich selbst spiegelte sich als Unduldsamkeit, ja stumme Wut auf meinen Zügen. Dass Oliver diese heftige Gefühlsregung auch auf sich beziehen konnte, kam mir gar
nicht in den Sinn.
    Vielleicht aus ähnlichen Gründen wandte ich regelmäßig den Blick ab, wenn er mich ansah – um zu verbergen, wie sehr mich das, schüchtern wie ich war,
belastete. Auch auf den Gedanken, dass er diese Vermeidungsstrategie womöglich als kränkend empfunden und deshalb hin und wieder mit einem feindseligen Blick geantwortet hatte, wäre
ich nie gekommen.
    Aber meine Überreaktion auf seinen Griff enthielt noch etwas, von dem ich nur hoffen konnte, dass er es nicht bemerkt hatte. Ehe ich seinen Arm abschüttelte, überließ ich
mich kurz seiner Hand, als wollte ich sagen – wie ich es so oft Erwachsene hatte sagen hören, wenn jemand ihnen im Vorübergehen die Schulter massiert – Bitte mach
weiter! Hatte er gespürt, dass ich bereit war, mich nicht nur seiner Hand zu überlassen?
    Auch diese Empfindung hielt ich abends in meinem Tagebuch fest. Ich nannte sie die »Ohnmacht«. Warum hatte mich diese Ohnmacht erfasst? Nur weil ich durch seine Berührung sofort
schlaff und willenlos geworden war? Ob es das war, was die Leute unter Dahinschmelzen verstanden?
    Und warum wollte ich ihm nicht zeigen, wie leicht er mich zum Schmelzen bringen konnte? Weil ich Angst vor den Folgen hatte? Oder weil ich fürchtete, er würde mich auslachen, es
herumerzählen oder den Vorfall einfach übergehen mit der beiläufigen Bemerkung, ich sei zu jung, um zu wissen, was ich tat? Oder weil er mehr oder weniger ahnte – und
damit zwangsläufig auf derselben Wellenlänge wie ich war –, dass er versucht sein könnte, selbst aktiv zu werden? Wollte ich das denn? Oder wäre mir lebenslanges
Sehnen lieber, vorausgesetzt, wir hielten beide das kleine Pingpong-Spiel in Gang: Nicht wissen, nicht nicht wissen, nicht nichtnicht wissen? Sei ruhig, sag nichts, und wenn du nicht ja sagen
kannst, sag nicht nein, sag »später«. Gibt es deshalb Leute, die »vielleicht« sagen, wenn sie »ja« meinen, aber hoffen, dass du glaubst, es sei
»nein« und in Wirklichkeit hören wollen: Bitte frag mich noch einmal, und danach immer wieder?
    Wenn ich auf jenen Sommer zurückblicke, kann ich kaum glauben, dass mir das Leben trotz meiner Mühe, es mit dem »Feuer« und der »Ohnmacht« auszuhalten,
wunderbare Momente schenkte. Italien. Sommer. Das Geräusch der Zikaden am frühen Nachmittag. Mein Zimmer. Sein Zimmer. Unser Balkon, der uns völlig von der Welt abschirmte. Der
sanfte Wind, der Düfte aus dem Garten zu meinem Zimmer hochtrug. Der Sommer, in dem ich meine Liebe zum Fischen entdeckte. Weil er es tat. Meine Liebe zum Joggen. Weil er es tat. Meine Liebe
zu Tintenfisch, Heraklit, Tristan . Der Sommer, in dem meine hellwachen Sinne, wenn ich einen Vogel singen hörte, eine Pflanze roch oder den Dunst spürte,
der an warmen sonnigen Tagen unter meinen Sohlen aufstieg, automatisch zu ihm eilten.
    Ich hätte so vieles abstreiten können: Dass es mich drängte, seine Knie und Handgelenke zu berühren, wenn sie mit jenem viskosen Schimmer, den ich nur ganz selten an einem
Menschen gesehen habe, in der Sonne glänzten; dass ich die rötlich-lehmigen Flecken auf seinen Tennisshorts liebte, weil seine Haut im Lauf der Wochen die gleiche Farbe angenommen hatte;
dass sein flatterndes blaues Hemd, das sich noch mehr bauschte, wenn er es an windigen Tagen am Pool trug, einen Geruch nach Haut und Schweiß verhieß. All das hätte ich abstreiten
können. Und hätte mir selbst sogar geglaubt.
    Aber es war seine goldene Halskette mit dem Davidsstern und der goldenen Mesusa, die mich begreifen ließ, dass da noch etwas Zwingenderes war als das, was ich mir von ihm wünschte,
denn es verband uns und zeigte mir, dass zumindest dies, so unterschiedlich wir auch sonst sein mochten, alle Unterschiede überwand. Schon sehr früh an seinem ersten Tag hatte ich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher