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Ruf mich bei Deinem Namen

Ruf mich bei Deinem Namen

Titel: Ruf mich bei Deinem Namen
Autoren: Andre Aciman
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seinem Lächeln aber auch meine Lesart mit der unausgesprochenen Andeutung kontern wollen, dass es bei mir ebenfalls etwas zum Belächeln gab, nämlich meine
schlau-verschmitzte, schuldbewusste Freude daran, so viele kaum wahrnehmbare Affinitäten zwischen uns zu entdecken. Oder hatte ich mir das Ganze nur eingebildet? Einerlei – wir
wussten beide, was der andere gesehen hatte. Als wir dann abends ins Kino radelten, war ich selig und gab mir keine Mühe, das zu verbergen.
    Weshalb aber hatte er bei so viel Scharfblick nicht erkannt, was mein jähes Zurückweichen vor seiner Hand bedeutete? Nicht erkannt, dass ich mich in seinen Griff geschmiegt hatte?
Nicht begriffen, dass ich alles getan hätte, damit er mich nicht losließ? Nicht gespürt, dass meine Unfähigkeit, mich zu entspannen, meine letzte Zuflucht, meine letzte
Rettung, mein letzter Vorwand gewesen war, dass ich ihm nicht würde widerstehen können, widerstehen wollen, was immer er tat oder mich zu tun bat? Nicht erkannt, dass ich, als ich an
jenem Sonntagnachmittag auf meinem Bett saß und wir beide allein im Haus waren und er in mein Zimmer gekommen war und gefragt hatte, warum ich nicht mit den anderen am Strand sei, statt einer
Antwort nur deshalb die Schultern gezuckt hatte, um nicht zu verraten, dass ich nicht genug Luft bekam, um etwas zu sagen, weil bei dem Versuch einer Antwort nur ein tollkühnes Geständnis
oder ein Schluchzer herausgekommen wäre? Seit meiner Kindheit hatte niemand mich in so einen Zustand versetzt. Eine üble Allergie, hatte ich herausgebracht. Bei mir auch, hatte er
geantwortet, wahrscheinlich haben wir die gleiche. Er griff sich meinen alten Teddy und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Dann drehte er den Teddykopf in meine Richtung und fragte mit
veränderter Stimme: »Was ist los? Du bist ja ganz durcheinander.« Inzwischen musste er gesehen haben, dass ich nur eine Badehose anhatte. Saß sie tiefer als der Anstand
gebot? »Kommst du schwimmen?«, fragte er. »Später vielleicht«, antwortete ich mit seinem Lieblingsspruch. »Ach was, komm jetzt.« Er streckte eine Hand aus,
um mir hochzuhelfen. Ich nahm sie und drehte mich zur Wand, er sollte mein Gesicht nicht sehen. »Muss das sein?«, fragte ich, aber was ich eigentlich hätte sagen wollen war: Bleib.
Bleib bei mir. Lass deine Hand wandern, wohin sie will, zieh mir die Badehose aus, ich werde keinen Laut von mir geben, werde es keiner Seele erzählen. Ich bin steif und du weißt es, und
wenn du nicht willst, nehme ich deine Hand und schiebe sie selbst in meine Hose.
    Und das alles sollte er nicht gemerkt haben?
    Er wollte sich nur noch umziehen. »Wir treffen uns unten«, sagte er und ging. Als ich an mir herunter sah, stellte ich entsetzt fest, dass mein Schritt nass war. Hatte er es gesehen?
Dumme Frage. Deshalb wollte er mich zum Strand scheuchen. Deshalb war er gegangen. Ich schlug mir mit der Faust an den Kopf. Wie hatte ich so vernagelt, so gedankenlos sein können?
Natürlich hatte er es gesehen.
    Ich hätte mir ein Beispiel an ihm nehmen sollen. Er hätte die Schultern gezuckt. Ein Lusttropfen? Ist doch okay. Aber das war nicht meine Art. Ich hätte nie
sagen können: Schön, er hat’s gesehen, na und? Jetzt weiß er Bescheid.
    Ich hätte mir niemals vorstellen können, dass jemand, der unter unserem Dach lebte, der mit meiner Mutter Karten spielte, an unserem Tisch frühstückte und zu Mittag aß,
freitags nur so aus Spaß den hebräischen Segen sprach, in einem unserer Betten schlief, unsere Handtücher benutzte, unsere Freunde zu seinen Freunden machte, an Regentagen mit uns
Fernsehen guckte, wenn wir im Wohnzimmer alle miteinander unter einer Decke saßen, der Kälte wegen, und es so gemütlich war, dem Regen zu lauschen, der an die Fenster
schlug – dass jemand in meiner unmittelbaren Umgebung genau das mochte, was ich mochte, das begehrte, was ich begehrte, das war, was ich war. Ich hätte es mir niemals vorstellen
können, weil ich mich trotz allem, was ich in Büchern gelesen, Gerüchten entnommen und aus schlüpfrigen Reden aufgeschnappt hatte, noch der Illusion hingab, es sei wohl
undenkbar, dass jemand in meinem Alter den Wunsch haben könnte, zugleich Mann und Frau – bei Männern und Frauen – zu sein. Ich hatte schon früher Männer
meines Alters begehrt, hatte mit Frauen geschlafen. Aber ehe er aus dem Taxi gestiegen war und unser Haus betreten hatte, wäre ich nie auch nur im Entferntesten auf die Idee gekommen, dass
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