Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ruf mich bei Deinem Namen

Ruf mich bei Deinem Namen

Titel: Ruf mich bei Deinem Namen
Autoren: Andre Aciman
Vom Netzwerk:
den
Stern bemerkt. Und von Stund an wusste ich, dass das, was mir Rätsel aufgab und mich drängte, seine Freundschaft zu suchen, größer war als alles, was wir uns voneinander
wünschen mochten, größer und deshalb besser als seine Seele, mein Körper oder die Erde selbst. Seinen Hals mit dem Stern und dem verräterischen Amulett zu sehen,
bedeutete, etwas Zeitloses, Angestammtes, Unsterbliches in mir, in ihm, in uns beiden zu sehen, das darum flehte, neu entfacht und aus jahrtausendealtem Schlaf erweckt zu werden.
    Zu meiner Überraschung schien er nicht zu merken oder nicht wichtig zu nehmen, dass auch ich einen Davidsstern trug. So wie er es nicht zu merken oder nicht wichtig zu nehmen schien, wenn
mein Blick zu seiner Badehose wanderte und versuchte, den Umriss dessen zu erkennen, was uns zu Brüdern in der Wüste machte.
    Abgesehen von meiner Familie dürfte er der einzige Jude gewesen sein, der je nach B. gefunden hat. Anders als wir aber ging er von Anfang an damit ganz offen um. Wir waren keine
auffälligen Juden. Wir trugen unser Judentum, wie Juden fast überall in der Welt, unter dem Hemd, nicht verborgen, aber weggesteckt. »Diskretes Judentum« nannte das meine
Mutter. Zu sehen, wie jemand sein Judesein am Hals zur Schau trug wie Oliver, wenn er sich eins unserer Fahrräder schnappte und mit weit geöffnetem Hemd in die Stadt fuhr, war ein Schock
für uns, zeigte uns aber auch, dass wir es machen könnten wie er und nichts zu befürchten hätten. Ich versuchte es ein paar Mal, hatte aber zu viele Hemmungen – wie
ein Junge, der scheinbar ungezwungen nackt im Umkleideraum herumläuft, nur um festzustellen, dass die eigene Nacktheit ihn aufgeilt. In der Stadt bemühte ich mich, mein Judentum mit jener
stummen Anmaßung zur Schau zu stellen, die nicht so sehr Arroganz als unterdrücktes Schamgefühl ist. Er war da anders. Nicht, dass er sich nie Gedanken darüber gemacht
hätte, was es bedeutet, Jude zu sein oder als Jude in einem katholischen Land zu leben. An den langen Nachmittagen legten wir manchmal die Arbeit beiseite und sprachen, während Familie
und Gäste sich auf die einzelnen Zimmer verteilt hatten, um ein paar Stunden zu ruhen, unter anderem auch über dieses Thema. Er hatte lange genug in Kleinstädten Neuenglands gelebt,
um zu wissen, wie einem als jüdischem Abseitssteher und Außenseiter zumute ist. Aber der Judaismus war für ihn, anders als für mich, nie ein großes Problem und auch nicht
Gegenstand eines permanenten metaphysischen Missbehagens an sich und der Welt, ja nicht einmal die mystische, unausgesprochene Verheißung erlösender Bruderschaft. Vielleicht litt er
deshalb nicht an seinem Judesein und hatte es nicht nötig, ständig daran herumzuzupfen wie Kinder an einem Schorf, den sie loswerden wollen. Er fand das Judesein okay, so wie er sich
selbst okay fand, seinen Körper, sein Aussehen, seine lächerliche Rückhand, seine Entscheidung für gewisse Bücher, Filme, Freunde, für eine bestimmte Musik. Der
Verlust seines geliebten Mont-Blanc-Füllers war okay. »So einen kann ich mir jederzeit wieder kaufen.« Auch Kritik fand er okay. Er hatte ein paar Seiten geschrieben, auf die er
stolz war, und zeigte sie meinem Vater, der ihm erklärte, seine Erkenntnisse in Sachen Heraklit seien hervorragend, bedürften aber noch der Festigung, er müsse das Paradoxe in der
Denkweise des Philosophen akzeptieren und nicht einfach wegerklären wollen. Das Festigen fand er okay, das Paradoxe fand er okay. Sich wieder an den Schreibtisch zu setzen – auch
das fand er okay. Er lud meine junge Tante zu einer mitternächtlichen gita  – einer Spritztour – zu zweit auf unserem Motorboot ein. Sie
lehnte ab. Das war okay für ihn. Ein paar Tage später versuchte er es noch einmal, bekam erneut einen Korb, was er wieder auf die leichte Schulter nahm. Auch sie fand das okay, und
wäre sie noch eine Woche länger geblieben, hätte sie es vermutlich okay gefunden, zu einer mitternächtlichen gita in See zu stechen, die ohne
weiteres bis Sonnenaufgang hätte dauern können.
    Nur einmal in jenen ersten Tagen ahnte ich, dass dieser eigenwillige, aber entgegenkommende, lässige, unerschütterliche Vierundzwanzigjährige, an dem alles abzuprallen schien, der
so vieles im Leben mit einem sorglosen Okay abtat, einen wachen, kalten, durchdringenden Blick für Charaktere und Situationen hatte. Nichts, was er tat oder sagte, geschah ohne Bedacht. Er
durchschaute alle, aber er
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher