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Ruf mich bei Deinem Namen

Ruf mich bei Deinem Namen

Titel: Ruf mich bei Deinem Namen
Autoren: Andre Aciman
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jemand, der sich so durch und durch okay fand, mir ebenso bereitwillig seinen Körper zur Verfügung stellen könnte wie ich ihm den meinen.
    Und doch wünschte ich mir zwei Wochen nach seiner Ankunft nur das eine, sah und hörte es Abend für Abend: Seine Tür geht auf – nicht die zum Flur, sondern die zum
Balkon –, die Espadrilles tappen über den Holzboden, meine Balkontür, die nie verriegelt ist, wird aufgestoßen, er kommt ins Zimmer – im Haus schläft
schon alles –, schlüpft unter meine Decke, zieht mich wortlos aus, bis ich nach ihm verlange, wie ich noch nie nach jemandem verlangt habe, und sucht sich schonungsvoll, mit der
Behutsamkeit eines Juden für den anderen, den Weg in meinen Körper, den Satz beherzigend, den ich seit Tagen vor mich hinsage: Bitte tu mir nicht weh – im Klartext aber: Es
darf so weh tun, wie du nur willst.
    Tagsüber hielt ich mich selten in meinem Zimmer auf, sondern hatte mir seit ein paar Jahren für den Sommer einen runden Tisch mit Sonnenschirm am Pool reserviert.
Pavel, unserer vorjähriger Sommergast, arbeitete gern im Haus und kam nur hin und wieder auf den Balkon, um einen kurzen Blick aufs Meer zu werfen oder eine Zigarette zu rauchen. Maynard, sein
Vorgänger, hatte ebenfalls auf seinem Zimmer gearbeitet. Oliver brauchte Gesellschaft. Zuerst setzte er sich zu mir an den Tisch, dann breitete er ein großes Laken auf dem Rasen aus und
legte sich darauf, umgeben von den losen Blättern seines Manuskripts und dem, was er seinen »Krempel« nannte: Limonade, Sonnencreme, Bücher, Espadrilles, Sonnenbrille,
Buntstifte und Musik, die er über Kopfhörer abspielte, so dass er nicht ansprechbar war, wenn er nicht von sich aus eine Unterhaltung begann. Wenn ich morgens mit meiner Partitur oder
Büchern nach unten kam, hatte er sich in seiner roten Badehose schon in die Sonne gelegt und schwitzte. Danach gingen wir joggen oder schwimmen, und wenn wir wiederkamen, wartete das
Frühstück. Später ließ er seinen »Krempel« auf dem Rasen liegen und legte sich auf den gekachelten Rand des Pools. Himmlisch fand er das. Nach dem Lunch sagte er
oft: »Ich leg mich jetzt in den Himmel. Zur apricatio, zum Sonnenbaden.« Wir zogen ihn mit den vielen Stunden auf, die er sonnenmilchglänzend ohne
jede Regung auf dem gleichen Fleck am Pool verbrachte. »Wie lange warst du heute Vormittag im Himmel?«, fragte dann meine Mutter. »Zwei geschlagene Stunden. Aber heute Nachmittag
soll die apricatio weitergehen.« Wenn er sich auf der »Peripherie zum Paradies« befand, lag er auf dem Rücken am Rand des Pools und ließ
ein Bein im Wasser baumeln, die Kopfhörer umgelegt und den Strohhut auf dem Gesicht – das Abbild eines Menschen, der wunschlos glücklich ist. Ich, der ich dieses Gefühl
nicht kannte, beneidete ihn.
    »Schläfst du, Oliver?«, fragte ich, wenn die unbewegte Luft am Pool sich allzu drückend auf uns legte.
    Schweigen.
    Und dann, fast wie ein Seufzer und ohne einen Muskel zu bewegen: »Jetzt nicht mehr.«
    »Entschuldige.«
    Dieser Fuß, der ins Wasser hing – ich hätte jeden Zeh einzeln küssen können. Und seine Fesseln. Und seine Knie. Wie oft hatte ich seine Badehose angestarrt, wenn
der Strohhut sein Gesicht verdeckte. Aber er konnte ja nicht wissen, wo ich hinsah …
    Oder: »Schläfst du, Oliver?«
    Langes Schweigen.
    »Nein. Ich denke nach.«
    »Worüber?«
    Die Zehen plantschten im Wasser.
    »Über Heideggers Interpretation eines Fragments aus Heraklit.«
    Oder, wenn ich nicht Gitarre übte und er sich nicht von seinen Kopfhörern beschallen ließ und, noch immer den Strohhut flach auf dem Gesicht, plötzlich das Schweigen
brach:
    »Elio.«
    »Ja?«
    »Was machst du?«
    »Ich lese.«
    »Tust du nicht!«
    »Also gut – ich denke nach.«
    »Worüber?«
    Liebend gern hätte ich es ihm gesagt!
    »Das ist vertraulich.«
    »Du willst es also nicht rauslassen?«
    »Ich will es also nicht rauslassen.«
    »Er will es also nicht rauslassen«, wiederholte er nachdenklich, als spräche er mit einem Dritten über mich.
    Wie schön das war, wenn er wiederholte, was ich selbst gerade wiederholt hatte. Es war wie eine Liebkosung oder eine Geste, die beim ersten Mal noch ganz zufällig ist, beim zweiten Mal
Absicht wird und beim dritten Mal noch mehr.
    Unvermittelt sah ich Mafalda vor mir, wie sie morgens mein Bett machte, das obere Betttuch über die Decke legte, dann das Laken zurückschlug, so dass es über die Kissen zu liegen
kam und dann
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