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Ruf mich bei Deinem Namen

Ruf mich bei Deinem Namen

Titel: Ruf mich bei Deinem Namen
Autoren: Andre Aciman
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durchschaute sie deshalb, weil das, wonach er in erster Linie bei ihnen Ausschau hielt, eben das war, was er bei sich selbst entdeckt hatte und vielleicht andere nicht
entdecken lassen wollte. Er war, wie meine empörte Mutter eines Tages erfuhr, ein gewiefter Pokerspieler, der zweimal in der Woche in die Stadt entwischte, um »ein paar Runden« zu
zocken. Das war der Grund dafür, dass er zu unserer großen Verwunderung unbedingt am Tag nach seiner Ankunft ein Konto hatte eröffnen wollen. Ein Bankkonto hatte bisher keiner
unserer Sommergäste gehabt, die meisten besaßen keinen roten Heller.
    Es geschah beim Lunch, zu dem mein Vater einen Journalisten eingeladen hatte, der sich in seiner Jugend nebenbei mit Philosophie beschäftigt hatte und zeigen wollte, dass er sich zutraute,
auch wenn er nie über Heraklit geschrieben hatte, jederzeit über jedes beliebige Thema zu diskutieren. Er und Oliver waren von Anfang an über Kreuz gewesen. Hinterher sagte mein
Vater: »Ein sehr geistreicher Mann und blitzgescheit.« »Finden Sie wirklich, Prof?«, fragte Oliver, dem nicht bewusst war, dass mein Vater, so locker er sich gab, nicht
immer erfreut über Widerspruch war und die Anrede »Prof« nicht schätzte, auch wenn er sich beides gefallen ließ. »Allerdings«, bekräftigte mein Vater.
»Da bin ich anderer Ansicht. Ich finde ihn arrogant, langweilig, grobschlächtig, ordinär. Er beharkt seine Zuhörer mit Witzen, viel Stimme und ausladenden
Gebärden …« – Oliver imitierte die gravitätische Art des Mannes – »weil er nicht fähig ist, einen Fall vernünftig zu vertreten. Die
Masche mit der Stimme ist doch total überzogen, Prof! Die Leute lachen nicht über ihn, weil er witzig ist, sondern weil er so deutlich signalisiert, dass er witzig sein will. Sein Humor
ist nur ein Versuch, Menschen für sich zu gewinnen, die er nicht mit Argumenten überzeugen kann.
    Wenn man ihn im Gespräch anschaut, sieht er immer weg, er hört nicht zu, er fiebert danach, das loszuwerden, was er sich zurechtgelegt hat, während man mit ihm spricht, damit er
es nur ja nicht wieder vergisst.«
    Wie konnte jemand sich so in die Denkweise eines anderen hineinversetzen, wenn er nicht selbst mit diesem Denkschema vertraut war? Wie konnte er so viele verschlungene Wege bei anderen erkennen,
wenn er sie nicht selbst schon gegangen war?
    Besonders beeindruckte mich nicht nur seine erstaunliche Gabe, Menschen zu deuten, in ihnen zu graben und die genaue Konfiguration ihrer Persönlichkeit zu Tage zu fördern, sondern
seine Fähigkeit, Dinge intuitiv in der gleichen Art und Weise zu erfassen, wie ich es getan hätte. Letztlich war es das, was mich mit einer Macht zu ihm hinzog, die weit über
Begehren oder Freundschaft oder die Anziehungskraft der gemeinsamen Religion hinausging. »Wie wär’s, wollen wir heute ins Kino gehen?«, platzte er einmal im Familienkreis
heraus, als sei ihm spontan die Erlösung von einem womöglich langweiligen Abend eingefallen. Bei Tisch hatte mein Vater mir, wie so häufig, zugeredet, besonders abends öfter mit
Freunden auszugehen. Es klang fast wie eine Strafpredigt. Oliver war noch neu bei uns, er kannte niemanden in der Stadt, deshalb war ich ihm als Begleiter sicher nicht unwillkommen, aber er hatte
seine Frage so lässig und scheinbar spontan gestellt, dass allen klar sein musste, wie wenig ihm an dem Kinobesuch gelegen war und dass er ebenso gern daheim geblieben wäre, um an seinem
Manuskript zu arbeiten. Der lässige Ton war aber auch als eine Art verbales Augenzwinkern für meinen Vater gedacht: Ich tue nur so, als sei mir die Idee gerade erst gekommen, in
Wirklichkeit, verehrter Prof, komme ich auf das zurück, was Sie beim Essen gesagt haben, und mache den Vorschlag eigentlich nur Ihrem Sohn zuliebe.
    Ich musste schmunzeln – nicht über seinen Vorschlag, sondern über das zweischneidige Manöver. Er merkte es und erwiderte mein Lächeln fast selbstironisch, denn
natürlich ahnte er, dass ich seine List durchschaut hatte, aber gäbe er das zu erkennen, käme das einem Schuldeingeständnis gleich, weigerte er sich aber, das zuzugeben, nachdem
ich deutlich gemacht hatte, dass ich ihm auf die Schliche gekommen war, würde ihn das noch mehr belasten. Mit seinem Lächeln räumte er ein, dass er sich hatte erwischen lassen, sich
aber als guter Verlierer dazu bekannte und trotzdem gern bereit war, mit mir ins Kino zu gehen. Ich fand das sehr aufregend.
    Vielleicht hatte er mit
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