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Das Missverstaendnis

Das Missverstaendnis

Titel: Das Missverstaendnis
Autoren: Irene Nemirovsky
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    Y ves schlief wie ein kleiner Junge, tief und fest. Er hatte die Stirn in die Ellenbeuge gelegt und in seinem schweren, vertrauensvollen Schlaf instinktiv eine kindliche Haltung eingenommen; selbst das unschuldige, ernste Lächeln eines Kindes war zurückgekehrt. Er träumte von einem flachen Strand, überflutet von Sonnenschein, von Abendlicht über dem Meer, von der Sonne zwischen den Tamarisken.
    Er war jedoch seit über vierzehn Jahren nicht mehr in Hendaye gewesen, und am Vortag, als er spätabends angekommen war, hatte er von diesem herrlichen Ort im Baskenland nur einen schattenhaften, geräuschvollen Abgrund wahrgenommen – das Meer –, ein paar Lichter inmitten einer noch dichteren Dunkelheit, einem Tamariskenwäldchen, wie er vermutete, und weitere Lichter am Rand der Wellen – das Kasino; an dieser Stelle hatten einst die Fischerkähne auf dem Wasser geschaukelt. In der Erinnerung war das sonnendurchflutete Paradies seiner Kindheit freilich intakt geblieben, und seine Träume ließen es wieder auferstehen, bis ins kleinste Detail, bis zu dem würzigen Geschmack der Luft.
    Als Kind hatte Yves in Hendaye seine schönsten Ferien verbracht. Jede Minute hatte er ausgekostet in diesen goldenen Tagen, die ihm in den Schoß gefallen waren wie reife Früchte, gewärmt von einer Sonne, die seinen entzückten Augen gänzlich neu erschienen war, wie in der Frühzeit der Erde. Seitdem schien das Universum ganz allmählich seine frischen Farben verloren zu haben, und selbst das Licht der alten Sonne war fahl geworden. Nur manchmal, in seinen Träumen, gelang es dem jungen Mann, der sich eine spielerische und lebhafte Phantasie bewahrt hatte, sie in ihrer ganzen ursprünglichen Strahlkraft wieder einzufangen; die auf solche Nächte folgenden Vormittage waren wie verzaubert von einer wohltuenden Traurigkeit.
    An diesem Morgen fuhr Yves genau wie in Paris um Punkt acht Uhr aus dem Schlaf. Er öffnete die Augen und wollte schon aus dem Bett springen; doch da sah er durch einen Spalt des Fensterladens einen schmalen Strahl bis zum Kopfende seines Bettes dringen wie einen goldenen Pfeil und nahm gleichzeitig jenes leise Summen schöner Sommertage auf dem Land wahr, gemischt mit den Rufen von Tennisspielern in den angrenzenden Gärten, und jenes besondere, fröhliche Geräusch – Glockengeläut, Schritte, fremde Stimmen –, das genügte, um ihm in Erinnerung zu rufen, daß er sich im Hotel befand, einem großen Gebäude voller Müßiggänger.
    Yves legte sich also wieder hin, lächelte, streckte sich und genoß seine herrlich faulen Gesten wie einen wiedergefundenen Luxus. Schließlich suchte er die Klingel, die zwischen den Gitterstäben des Messingbettes hing, und drückte sie. Nach einiger Zeit kam der Zimmerkellner mit dem Frühstückstablett herein. Er öffnete die Läden, und Sonnenlicht durchflutete den Raum.
    »Was für ein herrliches Wetter«, sagte Yves laut, wie damals, als er noch Schüler war und all seine Vergnügungen und all seine Kümmernisse vom Wetter abhingen. Er sprang aus dem Bett und lief barfuß zum Fenster. Zunächst war er enttäuscht: Er hatte Hendaye als ein winziges Dorf kennengelernt, bewohnt von Fischern und Schmugglern; damals hatte es nur zwei große Villen gegeben, die von Pierre Loti, etwas weiter weg, linker Hand, in der Nähe des Flusses, der Bidassoa, und die seiner Eltern, rechter Hand, dort, wo sich jetzt etwa zwanzig solcher Häuser befanden, alle im gleichen schlecht nachgeahmten baskischen Stil. Er sah, daß man hinter dem Strand einen Damm angelegt hatte, der mit schütteren Bäumen bepflanzt war; dort parkten Autos. Schmollend wandte er sich ab. Warum hatte man diesen gesegneten Erdenwinkel so verschandelt, den er gerade wegen seiner Schlichtheit, seines versöhnlich stimmenden Charmes geliebt hatte? Doch er blieb am offenen Fenster stehen, und nach und nach, wie man in einem durch die Jahre veränderten Gesicht ein Lächeln, einen Blick wiedererkennt und sich davon leiten läßt, um zögernd die geliebten Züge wiederzufinden, entdeckte er mit dem Gefühl einer tiefen Zärtlichkeit Linien und Schattierungen wieder, den Umriß von Bergen, die schimmernde Oberfläche des Golfs, die leicht wogende Tamariskendecke. Und als er wieder jenen Duft nach Zimt und Orangenblüten in der Luft schnupperte, den der Wind von Andalusien herüberwehte, war er plötzlich versöhnt mit dem Werk der Zeit, er lächelte, und die alte Fröhlichkeit weitete seine Brust.
    Mit leichtem Bedauern
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