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Madonna

Madonna

Titel: Madonna
Autoren: Kathrin Lange
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Prolog
    Nürnberg, Anfang Oktober 1493
    Er wählte sich seine Opfer sehr sorgfältig aus.
    Wenn ihn die Lust packte, streifte er manchmal tagelang durch die Straßen und Gassen Nürnbergs, um die passende Frau zu finden. Eine nach der anderen fasste er ins Auge, schlich ihnen nach, immer auf der Lauer nach einer Gelegenheit, ihnen ganz nahe zu kommen. Wenn es dann so weit war – auf dem Marktplatz vielleicht, im Gedränge, in dem es nicht auffiel, wenn er ihren Körper berührte –, sog er die Luft ein, die sie eben noch geatmet hatte.
    Und dann wusste er, ob sie die Richtige war.
    Er schmeckte es.
    Immer.
    So wie heute. Faul und ein wenig träge war er in der Nähe des Flusses herumspaziert und hatte den Fuhrleuten zugesehen, die eine Ladung Getreide in die Vorratskammern des Heilig-Geist-Spitals lieferten. Ein paar Spatzen hüpften rund um das kupfergedeckte Türmchen der Kapelle, zankten sich und rupften große Stücke Moos aus den Ritzen zwischen den Dachziegeln der Kirche. Nachdem die Fuhrleute ihre Arbeit erledigt hatten und von dannen gezogen waren, verweilte er noch einige Augenblicke an Ort und Stelle und folgte den verschlungenen Bahnen der Spatzen mit den Blicken. Und dann sah er sie . Einer der Seiteneingänge des Spitalgebäudes ging auf, und sie trat hinaus auf die Straße. Eine junge Frau, blond, mit einer Haube und langem, dunklem Rock. Hübsch war sie, ihr Gesicht hatte zwar etwas Herbes, aber sie strahlte eine Lebendigkeit aus, der auch der Hauch von Schwermut, den er an ihr wahrzunehmen glaubte, kaum etwas anhaben konnte.
    Bei ihrem Anblick erwachte schlagartig die Lust in ihm. Sein Kopf ruckte hoch, und seine Nasenflügel blähten sich, doch er war nicht nahe genug, um den Duft der jungen Frau einzufangen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als zuzusehen, wie sie lachend etwas über dieSchulter ins Innere des Gebäudes rief, wie sie dann die Tür schloss und mit dem Korb über dem Arm in Richtung Pegnitz verschwand.
    Er löste sich von der Mauer, an die er sich gelehnt hatte, und ging ihr nach. Ihr Rock schwang im Rhythmus ihrer raschen Schritte, und einige nachlässig frisierte blonde Haarsträhnen ringelten sich unter ihrer Haube hervor.
    Es war später Nachmittag, die Sonne neigte sich bereits dem Horizont zu, und die Schatten in den Gassen wurden länger. Die perfekte Zeit zum Jagen. Ein zufriedenes Lächeln glitt über sein Gesicht. Es war eine weise Entscheidung gewesen, dachte er, sein Dorf zu verlassen und hierher in die große Stadt zu kommen. Die Sitten hier waren lockerer als daheim, die Gassen dunkler. Hier fiel er mit seinen Begierden weitaus weniger auf als zu Hause, wo sie ihn oft misstrauisch beobachtet und ihre Töchter vor ihm weggeschlossen hatten.
    Er zog seinen Umhang fester um sich. Dann folgte er der jungen Frau, die einen Weg am Ufer des Flusses einschlug, der in Richtung Säumarkt führte. Als sie die hölzerne Brücke überquerte, die auf die kleine Flussinsel führte, blieb er an einer Hausecke stehen, um sie zu beobachten.
    Einer der Schweinehändler auf der Insel breitete die Arme aus und begrüßte die junge Frau überschwänglich. »Frau Jacob! Wie schön, Euch zu sehen!« Die Stimme des Mannes war tief und dröhnend und schallte weithin über den Fluss.
    Frau Jacob!
    Er spürte Enttäuschung durch seine Adern rinnen. Diese Frau war verheiratet, und das, obwohl sie eine farbige Haube trug und nicht die weiße, die sich für eine Ehefrau geziemte. Schlagartig ließ sein Interesse nach. Er wollte sich schon zurückziehen, als die Frau beim Reden den Kopf zur Seite neigte. Es war eine kokette Geste, und sie ließ die Lust in ihm von neuem aufflammen.
    Er grub die Fingernägel in das Fleisch seiner Hände. Das Dienstmädchen, das er vor einigen Tagen gehabt und von deren Anblick er bis heute gezehrt hatte, war plötzlich vergessen. Ohnehin war das dumme Ding keine gute Wahl gewesen. Es hatte sich heulend und zähneklappernd in sein Schicksal gefügt, was die ganze Sache im Grunde recht langweilig gemacht hatte. Diese junge Frau hier jedoch mit ihrer unziemlichen roten Haube und dem schlanken Hals, den sie ihm präsentierte,als wolle sie sagen: Nimm mich! – sie würde sich wehren, da war er sich ganz sicher. Sie würde ihn kratzen und beißen, so wie er es mochte.
    In seinem Magen bildete sich ein Knoten aus glühender Hitze und wanderte von dort aus nach unten.
    Der Händler machte einen Scherz. Die Frau lachte erneut, und die Hitze seines Leibes erreichte ihr Ziel.
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