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Ruf mich bei Deinem Namen

Ruf mich bei Deinem Namen

Titel: Ruf mich bei Deinem Namen
Autoren: Andre Aciman
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über alles die Tagesdecke breitete – her und hin und wieder her – und plötzlich schien mir, dass sich in diesem vielfachen Knicken und Falten etwas
verbarg, was Andacht und Nachgiebigkeit zugleich verriet – wie ein Sichfügen im Augenblick der Leidenschaft.
    Das nachmittägliche Schweigen war immer locker und unaufdringlich.
    »Ich lasse es nicht raus«, sagte ich.
    »Dann kann ich ja weiterschlafen.«
    Mein Herz raste. Er musste es gemerkt haben …
    Wieder tiefe Stille. Kurz darauf:
    »Himmlisch!«
    Und dann eine gute Stunde kein weiteres Wort von ihm.
    Es gab für mich nichts Schöneres, als still an meinem Tisch zu sitzen und über Transkriptionen zu brüten, während er auf dem Bauch lag und die Seiten korrigierte, die er
vormittags bei Signora Milani, seiner Übersetzerin, in B. abgeholt hatte.
    Hin und wieder nahm er die Kopfhörer ab und brach das drückende Schweigen jener langen schwülen Sommervormittage. »Jetzt hör dir das an. Ist dir je so ein Blödsinn
untergekommen?« Und dann las er etwas vor, von dem er nicht glauben mochte, dass er es vor Monaten selbst geschrieben hatte.
    »Hat das für dich Hand und Fuß? Für mich nicht.«
    »Aber vielleicht war es für dich, als du es geschrieben hast, in Ordnung.«
    Er überlegte einen Augenblick, als wäge er meine Worte.
    »So viel Verständnis hat mir seit Monaten niemand mehr entgegengebracht.« Das klang sehr gewichtig, als habe ihm das plötzlich irgendwie die Augen geöffnet, er schien
meinen Worten viel mehr Bedeutung beizumessen als ich es tat. »Verständnis?«, wiederholte ich verlegen.
    »Ja, Verständnis.«
    Wie er das meinte, leuchtete mir in diesem Zusammenhang nicht so ganz ein. Oder vielleicht begriff ich auch nicht recht, worauf er hinauswollte, deshalb ließ ich die Sache
sicherheitshalber auf sich beruhen. Wieder Schweigen. Bis zu seiner nächsten Bemerkung.
    Auch das mochte ich, wenn er das Schweigen brach, um etwas – irgendetwas – zu sagen oder zu fragen. Was ich von X hielte oder ob ich schon von Y gehört hätte. Bei
uns zu Hause interessierte sich niemand für meine Meinung, ich war eben der Kleine, der nichts zu sagen hatte, und es war nur eine Frage der Zeit, bis auch er sich diese Sicht zu eigen machen
würde. In seiner dritten Woche aber wollte er wissen, ob mir die Namen Athanasius Kircher, Giuseppe Belli und Paul Celan etwas sagten.
    »Allerdings.«
    »Ich bin fast zehn Jahre älter als du und habe bis vor ein paar Tagen noch nie was von denen gehört. Ich kapiere das nicht.«
    »Was gibt’s da zu kapieren? Dad ist Hochschullehrer. Ich bin ohne Fernseher aufgewachsen. Kapierst du jetzt?«
    »Komm, halt dich lieber an deine Klampfe!« Eine Antwort wie ein zusammengeknülltes Handtuch, das einem ins Gesicht fliegt. Sogar zurechtstutzen ließ ich mich gern von
ihm.
    Einmal warf ich, als ich mein Notizbuch auf dem Tisch verschob, versehentlich mein Glas um. Es fiel ins Gras, ohne zu zerbrechen. Oliver hob es auf und stellte es direkt neben meine Arbeit.
    Ich war ihm so dankbar, dass ich keine Worte fand. »Wär nicht nötig gewesen«, brachte ich schließlich heraus.
    Die Pause, die er einlegte, war gerade lang genug, um mir zu signalisieren, dass seine Antwort nicht unbedingt so locker-flockig gemeint war, wie sie klang.
    »Hab ich gern gemacht.«
    Gern, dachte ich, er hat’s gern gemacht.
    Gern, hörte ich ihn wiederholen – liebenswürdig, entgegenkommend, ja überschwänglich, denn auch so konnte er sein, wenn er Lust hatte.
    Diese Stunden an dem runden Holztisch mit dem großen Schirm, dessen Schatten nur auf einen Teil meiner Unterlagen fiel, das Klirren der Eiswürfel in unserer Limonade, das
Geräusch der nicht allzu fernen Brandung, die sanft an die gewaltigen Felsen schlug und als Hintergrundmusik aus einem der Nachbarhäuser das gedämpfte Knistern des in einer
Endlosschleife dudelnden Hitparaden-Medleys – all das ging für immer in diese Vormittage ein, an denen ich betete, die Zeit möge stillstehen. Mach, dass der Sommer nie ein Ende
hat, mach, dass Oliver nie fortgeht, mach, dass die Musik in dieser Endlosschleife in alle Ewigkeit weiterspielt, es ist sehr wenig, worum ich bitte, und ich schwöre, dass ich mir mehr nicht
wünschen werde.
    Aber was wünschte ich mir eigentlich? Und warum wusste ich nicht, was ich mir wünschte, obgleich ich durchaus bereit war, mir meine Wünsche mit rücksichtsloser Offenheit
einzugestehen?
    Vielleicht war mein bescheidenster Wunsch, von ihm zu
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