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Ruf mich bei Deinem Namen

Ruf mich bei Deinem Namen

Titel: Ruf mich bei Deinem Namen
Autoren: Andre Aciman
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wir uns geflissentlich, beschränkten uns auf ein Hallo, guten Morgen, schönes Wetter – seichtes Geplapper.
    Dann kamen ohne eine Erklärung die Dinge wieder in Gang.
    Ob ich heute früh mit ihm joggen wolle? Nein, eigentlich nicht. Na schön, dann vielleicht schwimmen?
    Der Schmerz, den ich heute empfinde, das Anschleichen, der Kitzel bei der Begegnung mit einem neuen Menschen, die Verheißung einer zum Greifen nahen Glückseligkeit, das ungeschickte
Bemühen um Personen, die ich womöglich falsch verstanden habe, nicht verlieren will und auf Schritt und Tritt neu deuten muss, die verzweifelten Listen, die ich anwende, wenn ich jemanden
begehre und von ihm leidenschaftlich begehrt werden will, die Trennwände, die ich aufstelle, als seien die Schiebetüren zwischen mir und der Welt nicht mit einem einzigen Blatt
Reispapier, sondern mit ganzen Schichten bespannt, der Drang, zu verschlüsseln und zu entschlüsseln, was eigentlich von Anfang an unkodiert war – all das begann in dem Sommer,
als Oliver zu uns ins Haus kam. Es ist jedem Song aufgeprägt, der in jenem Sommer ein Hit war, jedem Roman, den ich während seines Besuchs und danach las, allem, allem – vom
Duft des Rosmarins an heißen Tagen bis zu dem hektischen Lärmen der Zikaden am Nachmittag, Gerüchen und Geräuschen, mit denen ich aufgewachsen war, die ich von klein auf
kannte, die sich jetzt aber gegen mich wandten.
    Oder vielleicht begann es nach der ersten Woche, als ich beglückt erkannte, dass er noch wusste, wer ich war, dass er mich nicht ignorierte und ich mir deshalb den Luxus
erlauben durfte, auf dem Weg in den Garten an ihm vorbeizugehen, ohne so tun zu müssen, als bemerkte ich ihn nicht. Wir joggten an jenem ersten Morgen bis B. und zurück. Am nächsten
Morgen gingen wir schwimmen. Am Tag darauf joggten wir wieder. Ich lief gern an dem Milchwagen vorbei, der um diese Zeit seine Runde noch lange nicht beendet hatte, an Lebensmittelgeschäft
oder Bäckerei, die gerade erst aufmachten, ich lief gern am Strand entlang und über die Promenade, wenn dort alles noch menschenleer war und unser Haus wie eine ferne Fata Morgana wirkte.
Ich liebte den Gleichtakt unserer Sohlen, die gleichzeitig den Boden berührten und Abdrücke im Sand hinterließen, zu denen ich am liebsten zurückgekehrt wäre, um heimlich
meinen Fuß in seine Spur zu setzen.
    Diesen Wechsel von Laufen und Schwimmen hatte er sich in seiner Studienzeit angewöhnt. Ob er auch am Sabbat joggen gehe, fragte ich im Scherz. Er trainiere immer, sagte er, auch wenn er
krank sei, notfalls im Bett. Selbst wenn er nachts mit jemandem geschlafen habe, sei am nächsten Morgen Joggen angesagt. Mit einer Ausnahme: Nach seiner Operation. Als ich ihn fragte, weshalb
er sich operieren lassen musste, traf mich die Antwort, die ich nie mehr hatte provozieren wollen, wie der Hieb eines boshaft grinsenden Schachtelteufels. »Später.«
    Vielleicht war er außer Atem und mochte nicht viele Worte machen oder wollte sich einfach aufs Schwimmen oder Laufen konzentrieren. Vielleicht war es nur seine Art, auch mich dazu
anzuhalten, also etwas völlig Harmloses.
    Trotzdem – die jähe Distanz, die sich manchmal völlig unerwartet zwischen uns auftat, hatte etwas Erschreckendes, ja Entmutigendes. Es war fast so, als ließe er
absichtlich die Leine locker und immer lockerer, nur um sie dann mit einem Ruck zu straffen und damit jeden Schein von Gemeinsamkeit zunichtezumachen.
    Immer wieder war da dieser harte Blick wie an jenem Nachmittag, als ich an »meinem« Tisch im Garten Gitarre übte und er daneben im Gras lag. Ich hatte mich auf das Griffbrett
konzentriert, und als ich unvermittelt den Kopf hob, weil ich wissen wollte, ob ihm gefiel, was ich spielte, war er da: Schneidend, grausam, wie ein funkelndes Messer, das in dem Moment
zurückgezogen wird, da sein Opfer es erblickt. Er lächelte mir vage zu, als wollte er sagen: Sinnlos, es jetzt noch zu verstecken.
    Bleib ihm vom Leibe.
    Er muss mein Erschrecken bemerkt haben, und um mich zu versöhnen, stellte er mir Fragen nach der Gitarre. Ich war zu verklemmt, um unbefangen zu antworten, und als er mein Gestotter
hörte, vermutete er wohl, dass mehr dahintersteckte, als ich sagen wollte. »Schenk dir die Erklärung. Spiel’s einfach noch mal.« »Ich dachte, du kannst es nicht
leiden.« »Wie kommst du denn darauf ?« Wir stritten hin und her. »Komm, jetzt spiel endlich.« »Dasselbe?« »Dasselbe.«
    Ich stand auf, ging ins
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