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Ruf mich bei Deinem Namen

Ruf mich bei Deinem Namen

Titel: Ruf mich bei Deinem Namen
Autoren: Andre Aciman
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Hauptsächlich über die Promenade. Ich sei gern bereit, es ihm zu zeigen.
    Es war ein Schlag ins Gesicht, gerade jetzt, wo ich anfing, ihn wieder zu mögen. »Später vielleicht.«
    Ich hatte das Lesen zuletzt genannt, weil ich mir sagte, dass es, so launenhaft und eigenwillig, wie er sich gab, für ihn bestimmt am Schluss der Liste stehen würde. Nach ein paar
Stunden fiel mir ein, dass er gerade ein Buch über Heraklit geschrieben hatte und Lesen vermutlich einen nicht unwesentlichen Teil seines Lebens ausmachte. Ich würde einen geschickten
Rückzieher machen müssen, um ihm zu signalisieren, dass meine Interessen sich mit seinen deckten. Doch was mich gründlich aus dem Takt brachte, waren nicht die kunstreichen
Klimmzüge, die nötig gewesen wären, um mich in ein besseres Licht zu rücken, sondern die unbehagliche Erkenntnis, dass ich die ganze Zeit vergeblich versucht hatte, ihn für
mich einzunehmen.
    Als ich ihm dann anbot – weil alle Gäste bisher begeistert darauf eingegangen waren –, in San Giacomo mit ihm auf den Campanile zu steigen, der bei uns nur Zum-Sterben-schön hieß, erwies es sich als Fehler, dass ich mich nicht mit einer passenden Antwort gewappnet hatte. Mit diesem Blick auf die Stadt, auf
das Meer, auf die Ewigkeit werde ich ihn rumkriegen, dachte ich, aber was ich mir einhandelte, war nur ein weiteres »Später!«
    Vielleicht begann es aber auch irgendwann danach und von mir unbemerkt. Du siehst einen Menschen und siehst ihn doch nicht wirklich, weil er in den Kulissen steht. Oder du nimmst ihn zur
Kenntnis, aber nichts funkt, nichts knistert, und ehe du gewahr wirst, dass da jemand ist oder etwas dir die Ruhe raubt, sind die sechs Wochen vorbei, die dir geboten wurden, und er ist entweder
schon fort oder im Aufbruch – und du mühst dich, mit etwas zu Rande zu kommen, was sich unter deinen Augen seit Wochen zusammenbraut und alle Symptome dessen aufweist, was du dir
wohl oder übel als ein Ich will dich! eingestehen musst. Warum habe ich das nicht erkannt, fragst du dich. Ich weiß sehr wohl, was Begehren ist, aber
diesmal war es mir entgangen. Ich hatte mich auf das vieldeutige Lächeln kapriziert, das unvermittelt sein Gesicht erhellte, wenn er meine Gedanken las, dabei sehnte ich mich die ganze Zeit
nach Haut, nur nach Haut.
    An seinem dritten Abend bemerkte ich beim Essen, wie er mich fixierte, während ich Erläuterungen zu den S ieben letzten Worten unseres Erlösers am
Kreuz von Haydn gab, dem Werk, das ich gerade transkribierte. Ich war siebzehn und hatte mir angewöhnt, als der Jüngste am Tisch und somit derjenige, dem man am wenigsten
zuhörte, in ein Mindestmaß an Sätzen möglichst viele Informationen zu packen, die ich in einem nervösen, gehetzten Wortschwall von mir gab. Als ich meine Erklärung
beendet hatte, spürte ich, dass der aufmerksamste Blick mich von links traf, was ich schmeichelhaft fand. Das Thema interessierte ihn offensichtlich – er mochte mich. Es war also
gar nicht so schwierig gewesen. Aber als ich mich nach einer angemessenen Pause schließlich zu ihm umwandte, begegnete ich einem eiskalten Funkeln, das fast etwas Grausames hatte.
    Es machte mich völlig fertig. Womit hatte ich das verdient? Ich wollte, dass er wieder nett zu mir war, mit mir lachte wie noch vor wenigen Tagen an der stillgelegten
Bahnstrecke – oder als ich ihm am gleichen Nachmittag erzählt hatte, B. sei die einzige italienische Stadt, in der die corriera, die regionale
Buslinie, die Christus befördert hatte, ohne Aufenthalt durchfuhr. Er hatte gelacht und die verdeckte Anspielung auf den Roman von Carlo Levi sofort erkannt. Mir gefiel, dass unsere Gedanken
parallel zu laufen schienen, dass einer sofort erfasste, mit welchem Wort der andere spielte, sich aber im letzten Augenblick zurückhielt.
    Er würde ein schwieriger Hausgenosse werden. Am besten hältst du Abstand, sagte ich mir. Beinahe wäre ich schon der Haut seiner Hände verfallen, seiner Brust, den
Füßen, die noch nie eine raue Oberfläche berührt hatten – und seinem Blick, der einem, wenn er freundlicher auf einem ruhte, wie das Wunder der Auferstehung vorkam.
Nicht sattsehen konnte man sich an diesem Blick und musste doch immer wieder hinschauen, um herauszubekommen, warum man es nicht schaffte, von ihm zu lassen.
    Ich muss seinen Blick ähnlich böse erwidert haben.
    Zwei Tage lang kamen unsere Gespräche fast völlig zum Erliegen.
    Auf dem langen Balkon vor unseren Zimmern mieden
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