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Abaton: Die Verlockung des Bösen (German Edition)

Abaton: Die Verlockung des Bösen (German Edition)

Titel: Abaton: Die Verlockung des Bösen (German Edition)
Autoren: Olaf Kraemer
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PROLOG
    | 2P01 |
    Marie stand auf einem aus roten Ziegeln gemauerten Kai und sah zu, wie der riesige Dampfer von kleinen Schleppern an die Mole gezogen wurde. Ihre langen dunklen Haare hatte sie zu Zöpfen geflochten, um die Stirn gelegt und mit ihren schönsten Haarspangen befestigt. Sie trug ihr Sommerkleid mit den bunten Blumen und den kleinen Bienen, das eine Schneiderin extra für sie gemacht hatte. Das Nebelhorn des Schiffes blies Dampf in den blauen Himmel und vom Oberdeck unter den drei roten Schornsteinen winkte Maries Mutter. Sie trug einen hellen Hut mit einem weißen Schleier, der den oberen Teil ihres Gesichts verdeckte. Das Kostüm ihrer Mutter war aus hellem, weichem Stoff. Um ihren Hals flatterte ein buntes Tuch im warmen Wind. Neben ihr auf dem Deck stand eine große Kiste.
    Als der Dampfer näher kam, erkannte Marie die bunten exotischen Aufkleber der Hotels, die die Pagen daraufgeklebt hatten. Und plötzlich sah sich Marie selbst auf dieser Kiste stehen. Allerdings ohne Zöpfe, sondern mit einem modernen Pagenkopf-Schnitt. Louise. Maries Zwillingsschwester. Sie winkte wild mit den Armen und strahlte vor Freude.
    Das Schiff war längsseits gegangen und die Matrosen senkten die Gangway auf die Mole. Marie spürte, wie ihr Herz immer schneller schlug. Ihre Zunge wurde pelzig wie eine Hundepfote und vor Wiedersehensfreude trat sie ungeduldig von einem Bein aufs andere. Als die gut betuchten Passagiere nach und nach den Landungssteg hinabschritten wie einen Catwalk und am Ende der Gangway von ihren Verwandten begrüßt wurden, war Maries Mutter nicht unter ihnen. Suchend eilte Marie durch die Szenen freudigen Wiedersehens. Sie fragte die Passagiere nach Louise, nach ihrer Mutter, doch schaute sie nur in ratlose Gesichter. Sie waren nicht vom Schiff gekommen. Marie musste zusehen, wie die Anzüge der Männer schäbiger und die Kleider der Frauen einfacher wurden.
    Bis schließlich die Seeleute von Deck gingen.
    Die Ladung gelöscht wurde.
    Und Marie allein am Kai stand.
    Allein mit dem Geruch des Salzwassers und des Teers von dem kalfaterten Schiff, dem Duft der Gewürzballen, die mit einem Kran aus dem Frachtdeck abgeladen wurden. » SHIVA « war in Hindi und im lateinischen Alphabet an den Bug des Schiffes gemalt und die zerfetzte Flagge eines fremden Landes hing schlaff an seinem Heck in der Sonne. Ab und an klatschte eine Welle gegen die Kaimauer.
    Wo waren sie geblieben?
    Zögernd tat Marie einen Schritt auf die leere Gangway zu, die an Bord des riesigen Ozeandampfers führte. Vorsichtig, als handele es sich um dünnes Eis, setzte sie den Fuß auf das Holz, als das Horn des Dampfers noch einmal laut blies. Marie fuhr zusammen und trat einen Schritt zurück. Erneut blies das Ungetüm. Dann wurde es schwächer, bis nur noch ein leises, jämmerliches Fiepen erklang – ein Fiepen wie von einem Wasserkessel, der auf einem Herd steht, einem Herd in einer Souterrainwohnung in Berlin – der Wohnung, die in den letzten Jahren Maries Heimstatt gewesen war.
    Mit fest geschlossenen Augen lag Marie auf ihrem Bett und versuchte ihren Traum festzuhalten, wenigstens einen Fetzen davon mit in den Tag zu nehmen, eine Hoffnung, dass ihre Mutter und ihre Schwester doch mit dem Schiff gekommen waren und sie doch noch die Gangway hinauf an Bord des Schiffes gehen würde, um Louise, um ihre Mutter noch einmal zu sehen, noch einmal in den Arm zu nehmen. Es gab keinen anderen Weg als den über die Gangway. Doch sosehr Marie sich auch bemühte: Die Gangway war verschwunden, ebenso wie das Schiff, der warme Wind und das erwartungsvolle Schreien der Möwen.
    Stattdessen hörte sie das Klappern von Geschirr und das leise Summen des Funkgeräts mit den grünlichen Augen, das im hinteren Teil der Wohnung stand. Der Kessel pfiff hinter der spanischen Wand, die ihr Feldbett von dem Rest der Wohnung trennte, und der exotische, leicht süßliche Geruch von Gewürzen, die ihr Vater in den Tee geworfen hatte, durchzog die Wohnung, die selbst im Sommer kühl und feucht war. Jetzt spürte Marie den Stich in ihrem Herzen, den sie hatte vermeiden wollen: Es gab keinen Dampfer. Keine Mutter, keine Louise, die gekommen waren, um sie zu besuchen. Es gab nur einen alten Kessel und es gab Carl Friederich Bernikoff. Dieser hochgewachsene Mann mit dem weißen Haar und der dunklen Haut, mit dem sie die Jahre verbracht hatte, seitdem ihre Mutter mit ihrer Zwillingsschwester verschwunden war. Marie lächelte, als sein freundliches Gesicht hinter
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