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Ruf mich bei Deinem Namen

Ruf mich bei Deinem Namen

Titel: Ruf mich bei Deinem Namen
Autoren: Andre Aciman
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in Asien unterwegs, so dass seine Reaktion auf Viminis Tod kein Balsam auf eine frische Wunde war, sondern
riß eher eine schon verheilte Verletzung wieder auf. Mein Brief an ihn wegen Vimini war wie eine letzte Brücke zwischen ihm und mir gewesen, zumal nun klar war, dass wir das, was
zwischen uns geschehen war, nie ansprechen, es nicht einmal andeuten würden. In diesem Brief hatte ich ihm auch mitgeteilt, welches College ich in den Staaten besuchte – für
den Fall, dass er das noch nicht von meinem Vater wusste, der mit all unseren früheren Sommergästen in lebhaftem Briefwechsel stand. Witzigerweise schickte Oliver seine Antwort an meine
Anschrift in Italien – ein weiterer Grund für die Verzögerung.
    Dann kamen die leeren Jahre. Wollte ich alle Menschen aufzählen, deren Bett ich geteilt habe, und könnte ich diese in zwei Gruppen einteilen – die vor und die nach
Oliver –, so wäre die größte Gabe, mit der das Leben mich bedenken könnte, diesen Teiler zeitlich nach vorn zu verschieben. Viele halfen mir, das Leben in »vor
X« und »nach X« zu unterteilen, viele brachten Freude und Kummer, viele warfen mein Leben aus der Bahn, während andere es völlig unberührt ließen, so dass
Oliver, der so lange Dreh- und Angelpunkt in meinem Leben gewesen war, im Lauf der Zeit Nachfolger bekam, die ihn entweder in den Schatten stellten oder ihn zu einem frühen Meilenstein
reduzierten, einer unbedeutenden Weggabelung, einem kleinen feurigen Merkur auf der Reise zu Pluto und darüber hinaus. Nicht zu fassen, sagte ich dann vielleicht: Damals war ich mit Oliver
zusammen und hatte Soundso noch nicht kennengelernt, dabei ist das Leben ohne Soundso doch einfach undenkbar.
    Neun Jahre nach seinem letzten Brief riefen mich meine Eltern in den Staaten an. »Was glaubst du, wer auf zwei Tage bei uns ist, in deinem früheren Zimmer, und jetzt neben mir
steht?« Ich hatte es natürlich schon erraten, stellte mich aber ahnungslos. »Dass du dich weigerst zuzugeben, dass du es schon weißt, spricht Bände«, spottete mein
Vater. Zwischen meinen Eltern gab es ein Gerangel wegen des Hörers. Dann endlich seine Stimme. »Elio!« Im Hintergrund hörte ich meine Eltern und Kinderstimmen. Niemand sonst
konnte meinen Namen so aussprechen. »Elio«, wiederholte ich, um mich zu melden, aber auch, um unser altes Spiel wieder aufleben zu lassen und ihm zu zeigen, dass ich nichts vergessen
hatte. »Hier Oliver.« Ihm war es entfallen.
    »Sie haben mir Fotos gezeigt, du hast dich nicht verändert«, sagte er und erzählte von seinen beiden Jungen, die jetzt mit meiner Mutter im Wohnzimmer spielten, acht und
sechs, du musst unbedingt meine Frau kennenlernen, ich bin so froh, hier zu sein, das glaubst du gar nicht. Es ist der schönste Flecken Erde auf der Welt, sagte ich und tat, als habe er die
Landschaft gemeint. Du kannst dir nicht vorstellen, wie glücklich ich hier bin. Seine Stimme brach, er reichte den Hörer an meine Mutter zurück, die ihm liebevoll zusprach.
» Ma s’è tutto commosso, er ist ja ganz gerührt«, sagte sie zu mir. »Zu schade, dass ich nicht bei euch sein kann«, sagte
ich und war nun auch sehr bewegt – und das wegen eines Mannes, an den ich kaum mehr gedacht hatte. Die Zeit macht uns sentimental. Vielleicht liegt es letztlich an der Zeit, dass wir
leiden.
    Als mich vier Jahre später der Weg durch seine Universitätsstadt führte, tat ich etwas Ungewöhnliches: Ich beschloss, mich zu melden. Ich setzte mich in
seine Nachmittagsvorlesung und als er hinterher seine Bücher wegpackte und lose Blätter in einen Ordner schob, ging ich zu ihm. Ich würde ihn nicht raten lassen, wer ich war, aber
ich wollte es ihm auch nicht zu leicht machen.
    Ein Student stand da, der ihn noch etwas fragen wollte, und ich wartete, bis ich an der Reihe war. Schließlich ging der Student, und ich sagte: »Sie werden sich nicht mehr an mich
erinnern«, als er die Augen ein wenig zusammenkniff in dem Versuch, mich unterzubringen. Er war merklich auf Distanz gegangen, als hätten wir uns womöglich an einem Ort
kennengelernt, an den er nicht gern erinnert werden wollte. Ein ironisch fragender Blick, ein unbehagliches, schiefes Lächeln, als probte er einen Satz wie Tut mir leid,
ich glaube, Sie verwechseln mich  – dann stutzte er. »Großer Gott – Elio!« Es sei der Bart gewesen, der ihn
irregeführt habe, sagte er. Er umarmte mich und tätschelte mein bepelztes Gesicht, so dass ich mir jünger
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