Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ruf mich bei Deinem Namen

Ruf mich bei Deinem Namen

Titel: Ruf mich bei Deinem Namen
Autoren: Andre Aciman
Vom Netzwerk:
vorkam, als ich in jenem fernen Sommer gewesen war. Er drückte mich so,
wie er es an jenem Abend nicht fertiggebracht hatte, als er in mein Zimmer gekommen war, um mir zu eröffnen, dass er heiraten würde. »Wie lange ist es her?«
    »Fünfzehn Jahre, ich habe sie gestern Abend auf der Fahrt hierher gezählt. Falsch – ich habe es immer gewusst.«
    »Fünfzehn, tatsächlich. Nicht zu glauben. Komm auf einen Drink mit zu mir, komm heute Abend zum Essen, du musst meine Frau kennenlernen, die Kinder. Bittebittebitte.«
    »Sehr nett von dir …«
    »Ich bringe nur schnell noch was in mein Büro, dann kann’s losgehen. Der Fußweg zum Parkplatz ist wunderhübsch.«
    »Du hast mich nicht ausreden lassen. Sehr nett von dir, aber es geht nicht.«
    Er sah mich an, während er seine Unterlagen in die Ledertasche packte.
    »Du hast mir nie verziehen, was?«
    »Es gab nichts zu verzeihen. Im Gegenteil, ich bin dankbar für alles. Ich erinnere mich nur an Gutes.«
    Das hatte ich Leute im Film sagen hören. Sie schienen es zu glauben.
    »Woran liegt’s denn?«
    Wir betraten die Mensa, wo einer dieser langen, trägen, Ostküsten-Sonnenuntergänge orangefarben nachleuchtende Schatten auf die benachbarten Berge warf.
    Wie sollte ich ihm oder auch nur mir erklären, warum ich ihn nicht zu Hause besuchen und seine Familie kennenlernen konnte, so sehnlich ich mir das auch wünschte? Oliver-Frau,
Oliver-Söhne, Oliver-Haustiere, Oliver-Arbeitszimmer, Schreibtisch, Bücher, Welt, Leben. Was hatte ich erwartet? Eine Umarmung, einen Händedruck, wie geht’s, wie
steht’s – und dann das unvermeidliche »Später!«
    Schon der Gedanke daran, seine Familie kennenzulernen, versetzte mich in Panik – zu real, zu plötzlich, nicht ausreichend eingeübt. Über die Jahre hatte ich ihn auf
Dauer in der Vergangenheit untergebracht, meinen Plusquamperfekt-Lover, ihn mit Erinnerungen und Mottenkugeln ausgestopft wie eine Jagdtrophäe, die mit dem Geist meiner Abende plauderte. Von
Zeit zu Zeit staubte ich ihn ab und stellte ihn dann wieder auf den Kaminsims. Er gehörte nicht mehr der Erde, nicht mehr dem Leben an. Der Besuch würde mir nicht nur vor Augen
führen, wie weit wir uns voneinander entfernt hatten, sondern was ich verloren hatte – etwas, was ich als abstrakte Vorstellung ab und zu durchaus zuließ, was aber als
hautnahe Erfahrung sehr schmerzlich sein würde. Auch die nostalgische Erinnerung schmerzt ja noch, wenn wir schon lange nicht mehr an die Dinge denken, die wir verloren haben und an denen uns
vielleicht nie etwas lag.
    Oder war ich eifersüchtig auf seine Familie, auf das, was er sich aufgebaut hatte, auf all das, woran ich nicht teilnahm, wovon ich nichts wusste? Auf Dinge, die er ersehnt, geliebt,
verloren, deren Verlust ihn unglücklich gemacht hatte, die ich aber nicht miterlebt hatte, von denen ich nichts wusste? Oder war es viel einfacher? Ich war gekommen, weil ich wissen wollte, ob
ich etwas spürte, ob noch etwas lebendig war. Das Dumme war, dass ich gar nichts spüren wollte.
    Wenn ich mich an ihn erinnerte, sah ich ihn entweder in B. oder an unseren letzten gemeinsamen Tagen in Rom, da vor allem an zwei Orten – auf dem Balkon mit all seinen Qualen und der
Via Santa Maria dell’Anima, wo er mich an die alte Mauer gedrückt hatte. Wenn ich in Rom bin, gehe ich jedes Mal hin. Die Stelle ist nach wie vor lebendig für mich, hat etwas
Unmittelbares, sehr Gegenwärtiges, nach wie vor pocht unter dem Schieferpflaster ein aus einer Geschichte von Poe gestohlenes Herz und erinnert mich daran, dass ich hier das Leben fand, das
für mich das richtige gewesen wäre. In Neuengland hatte ich ihn mir nie vorstellen können. Als ich eine Weile selbst da lebte, kaum 75 Kilometer von ihm entfernt, war mir immer noch,
als wäre er irgendwo in Italien, unwirklich und geisterhaft. Auch die Orte, an denen er gelebt hatte, kamen mir unbeseelt vor, und sobald ich versuchte, sie mir vorzustellen, schwammen und
trieben sie – nicht weniger unwirklich und geisterhaft – auf und davon. Jetzt aber hatte sich gezeigt, dass nicht nur die Städte Neuenglands sehr lebendig waren, sondern
auch Oliver es war. Ich hätte mich ihm – verheiratet hin, verheiratet her – ohne weiteres schon vor Jahren aufdrängen können, nur war wohl allem
äußeren Anschein zum Trotz offenbar ich der Unwirkliche und Geisterhafte.
    Oder war ich doch mit einem sehr viel schnöderen Hintergedanken gekommen? Um nachzusehen, ob er
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher