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Ruf mich bei Deinem Namen

Ruf mich bei Deinem Namen

Titel: Ruf mich bei Deinem Namen
Autoren: Andre Aciman
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allein lebte, auf mich wartete, danach fieberte, mit mir nach B. zurückzukehren? Um mich
zu vergewissern, dass wir beide an demselben Respirator hingen und nur auf den Augenblick warteten, an dem wir endlich wieder zusammen vor dem Piave-Denkmal stehen würden?
    Und dann platzte ich heraus: »Ich bin mir nicht sicher, was ich spüre. Und wenn ich deine Familie kennenlernen soll, wäre es mir lieber, nichts zu spüren.« Eine
dramatische Pause. »Vielleicht ist es nie ganz verschwunden.«
    War das die Wahrheit? Oder drängte mich dieser spannungsvolle Augenblick dazu, Dinge zu sagen, die ich nicht einmal mir selbst gegenüber je zugegeben hatte und die überdies nicht
ganz stimmten?
    »So«, sagte er – ein treffendes Resümee meiner Zweifel und Ängste. Oder war es ein So?, im Klartext also die Frage, was eigentlich so schockierend daran war,
wenn ich ihn nach so vielen Jahren noch begehrte.
    »So«, wiederholte ich, als spräche ich über die grillenhaften Schmerzen und Kümmernisse eines wunderlichen Dritten, der zufälligerweise ich war.
    »Deshalb kannst du also nicht auf einen Drink mit zu mir kommen?«
    »Deshalb kann ich nicht auf einen Drink mit zu dir kommen.«
    »Du bist ein Esel!«
    Dieses Wort hatte ich völlig vergessen.
    In seinem Büro machte er mich mit zwei, drei zufällig anwesenden Kollegen bekannt und ich stellte überrascht fest, wie vertraut er mit allen Einzelheiten meines Werdegangs war. Er
wusste alles, war über die unbedeutendsten Einzelheiten auf dem Laufenden. Manche Informationen, die er ausgegraben hatte, konnte er nur im Internet gefunden haben. Es rührte mich. Ich
war davon ausgegangen, dass er mich völlig vergessen hatte.
    »Ich möchte dir etwas zeigen«, sagte er. In seinem Büro stand ein breites Ledersofa. Oliversofa, dachte ich. Hier also sitzt er, wenn er lesen will. Auf dem Sofa und auf
dem Fußboden lagen lose Blätter herum, nur nicht in der einen Ecke, auf die das Licht einer Alabasterlampe fiel. Oliverlampe. Ich erinnerte mich an die Bogen, die in seinem Zimmer in B.
den ganzen Fußboden bedeckt hatten. »Weißt du noch, was das ist?«, fragte er. An der Wand hing in einem Rahmen als kolorierte Reproduktion das schlecht erhaltene Fresko
einer bärtigen Mithrasfigur. Wir hatten sie beide an dem Vormittag gekauft, als wir in San Clemente gewesen waren. Ich hatte meine seit einer halben Ewigkeit nicht mehr gesehen. Daneben hing
die gerahmte Postkarte von Monets Malplatz.
    »Das war mal meine, aber jetzt hast du sie schon viel, viel länger als ich.« Wir gehörten einander, aber weil wir uns voneinander wegentwickelt hatten, gehörten wir
jetzt anderen, die wie Hausbesetzer unser Leben vereinnahmt hatten.
    »Sie hat eine lange Geschichte«, sagte ich.
    »Ich weiß. Als ich sie neu rahmen ließ, habe ich den Text auf der Rückseite gelesen. Er hat mich sehr beschäftigt, dieser Maynard. Denk
gelegentlich mal an mich .«
    »Dein Vorgänger«, neckte ich ihn. »Nein, so war es nicht. An wen wirst du sie weitergeben?«
    »Es wäre schön, habe ich mir gedacht, wenn einer meiner Söhne sie mitbringen könnte, wenn er als Sommergast zu euch kommt. Mein Text steht schon drauf – aber
du kannst ihn nicht sehen.« Dann wechselte er rasch das Thema. »Bist du länger hier?« Er hatte schon den Regenmantel an.
    »Nur für eine Nacht. Morgen Vormittag bin ich mit ein paar Leuten an der Hochschule verabredet, dann geht’s weiter.«
    Er sah mich an. Ich wusste, dass er an jenen Abend in den Weihnachtsferien dachte, und er wusste, dass ich es wusste. »Ich bin also exkulpiert …«
    »Gehen wir noch auf einen Drink in mein Hotel?«
    Ich spürte sein Unbehagen.
    »Ich sagte Drink, nicht Fick.«
    Tatsächlich – er wurde rot. Er sah immer noch umwerfend gut aus, das Haar dicht, kein Gramm Fett zu viel, er joggte, wie er mir erzählt hatte, noch immer jeden Morgen, die
Haut war so glatt wie damals. Nur an den Händen hatte er ein paar Sonnenflecken. Sonnenflecken, dachte ich und kam nicht darüber weg. »Was ist das?«, fragte ich, deutete auf
seine Hand und fasste sie an. »Ich hab sie am ganzen Körper.« Sonnenflecken. Sie brachen mir das Herz. Am liebsten hätte ich ihm jeden einzeln weggeküsst. »Zu viel
Sonne in jungen Jahren. Außerdem wird man schließlich älter. In drei Jahren wird mein älterer Sohn so alt sein wie du damals – er ist dem Menschen, der du warst,
als wir zusammen waren, näher als du dem Elio, den ich damals kannte. Erschreckend,
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