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Ruf mich bei Deinem Namen

Ruf mich bei Deinem Namen

Titel: Ruf mich bei Deinem Namen
Autoren: Andre Aciman
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hast du auf die Karte geschrieben?«
    »Es sollte eine Überraschung sein.«
    »Für Überraschungen bin ich zu alt. Außerdem gehört zu einer Überraschung immer eine scharfe Kante, die verletzen kann. Ich will mich aber nicht verletzen
lassen – jedenfalls nicht von dir.«
    »Nur zwei Worte.«
    »Lass mich raten. Wenn nicht später, wann dann? «
    »Zwei Worte, habe ich gesagt. Außerdem wäre das grausam.«
    Ich dachte eine Weile nach.
    »Ich geb’s auf.«
    » Cor cordium, Herz der Herzen, ich habe nie jemandem ein wahreres Wort gesagt.«
    Ich sah ihn groß an.
    Nur gut, dass wir an einem öffentlichen Ort waren.
    »Es wird Zeit …« Er griff nach seinem Regenmantel, der zusammengelegt neben ihm lag, und machte Anstalten aufzustehen.
    Ich wollte ihn bis zum Ausgang begleiten und warten, bis er weggefahren war. Das war der Abschied. Unvermittelt würde man mir einen Teil meines Lebens wegnehmen und nie
zurückgeben.
    »Ich könnte dich noch zu deinem Wagen bringen.«
    »Du könntest zum Abendessen kommen.«
    »Könnte ich …«
    Draußen wurde es schnell Nacht. Ich mochte die friedliche Stille der Landschaft mit dem verblassenden Alpenglühen und dem dunkelnden Fluss. Oliverland, dachte ich. Die gesprenkelten
Lichter, die vom anderen Ufer aus aufs Wasser fielen, erinnerten mich an Van Goghs Sternennacht über der Rhone . Typisch Herbst, typisch Schuljahrsbeginn,
typisch Indian Summer, und wie immer im Zwielicht des Indian Summer jener leise Nachklang, gemischt aus unerledigten Sommervorhaben, unerledigten Hausaufgaben und der Illusion, der Sommer dauere
noch Monate an, einer Illusion, die sich prompt verflüchtigt, kaum dass die Sonne untergegangen ist.
    Ich versuchte mir die glückliche Familie vorzustellen, die Jungen in ihre Hausarbeit vertieft oder vom abendlichen Training zurückkehrend, knurrig, schlecht gelaunt, mit schmutzigen
Stiefeln, ein Klischee nach dem anderen schoss mir durch den Kopf. Das ist der Mann, in dessen Haus ich in Italien gewohnt habe, würde er sagen, und die beiden
Halbwüchsigen würden mit ungehaltenem Brummeln reagieren, weil sie weder der Mann aus Italien noch das Haus in Italien interessierte, aber wie vor den Kopf geschlagen wären, wenn er
sagen würde Ach, übrigens hat sich dieser Mann, der damals fast so alt war wie ihr und vormittags still und fleißig »Die Sieben Letzten Worte Christi am
Kreuz« transkribierte, nachts in mein Zimmer geschlichen, und wir haben uns die Seele aus dem Leib gevögelt. Also gebt ihm die Hand und seid nett zu ihm.
    Dann malte ich mir die Rückfahrt aus, spät in der Nacht, am Ufer des sternenbeglänzten Flusses entlang zu dem alten, baufälligen Neuengland-Hotel an einer Küste, von der
ich hoffte, dass sie uns an die Bucht von B. erinnern würde und an Van Goghs Sternennächte, an die Nacht, in der ich neben ihm auf dem Felsen gesessen und seinen Nacken geküsst hatte
und an den letzten Abend, als wir zusammen über die Küstenstraße gegangen waren und wussten, dass kein Wunder in letzter Minute die Abreise aufschieben würde. Ich sah mich in
seinem Wagen sitzen und überlegen, ob ich es gern täte, ob er es gern täte, vielleicht würde ja ein letzter Drink an der Bar es entscheiden, ich wusste, dass uns das beim
Abendessen unablässig beschäftigt hatte, dass wir hofften, es würde geschehen, und beteten, es möge nicht geschehen, vielleicht würde ja ein letzter Drink an der Bar es
entscheiden … Ich las es auf seinem Gesicht, als ich mir vorstellte, dass er wegsah, während er eine Flasche Wein entkorkte oder eine neue CD auflegte, denn auch er wusste ja, was mir
durch den Kopf ging und wollte mir signalisieren, dass er sich mit derselben Frage herumschlug, denn während er seiner Frau, mir und sich einschenkte, würden wir endlich begreifen, dass
er mehr ich war, als ich selbst es je gewesen war, weil er, als er vor so vielen Jahren im Bett ich wurde und ich er, mein Freund geworden war und immer bleiben würde, auch wenn wir
längst getrennte Wege gingen – mein Bruder, mein Freund, mein Vater, mein Sohn, mein Ehemann, mein Lover. Ich. In jenen zufälligen Sommerwochen hatten sich unsere Lebenslinien
kaum berührt, aber wir waren am anderen Ufer gewesen, dort, wo die Zeit stillsteht und sich der Himmel zur Erde neigt und uns jenen Anteil an dem schenkt, was von Geburt an gottgegeben unser
ist. Wir sahen weg. Wir sprachen über alles andere, nur das nicht. Aber wir hatten es immer gewusst, und dass wir in diesem
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