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Ruf mich bei Deinem Namen

Ruf mich bei Deinem Namen

Titel: Ruf mich bei Deinem Namen
Autoren: Andre Aciman
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was?«
    Als wir zusammen waren  … So nennst du das also, dachte ich.
    In der Bar des alten Neuengland-Hotels suchten wir uns eine ruhige Ecke mit Blick auf den Fluss und einen großen Ziergarten, der üppig in Blüte stand. Wir bestellten
Martinis – Sapphire-Gin, präzisierte er – und saßen dicht beieinander in der hufeisenförmigen Nische wie zwei Ehemänner, die gezwungenermaßen
peinlich eng zusammengerückt sind, während ihre Frauen auf der Toilette sind.
    »Noch acht Jahre, dann bin ich siebenundvierzig und du bist vierzig. Fünf Jahre später bin ich zweiundfünfzig und du fünfundvierzig. Wirst du dann zum Abendessen
kommen?«
    »Versprochen.«
    »Du willst also erst dann kommen, wenn du so alt geworden bist, dass es dir einerlei ist. Wenn meine Kinder aus dem Haus sind. Oder ich Großvater bin. Ich sehe es vor
mir – wir werden zusammensitzen und einen hochprozentigen Eau de vie trinken, einen Grappa, wie ihn dein Vater manchmal abends spendiert hat.«
    »Und wie die alten Männer, die auf der Piazzetta um das Piave-Denkmal herumsaßen, werden wir über zwei junge Männer sprechen, die einige wenige Wochen sehr
glücklich waren und den Rest ihres Lebens damit verbrachten, Wattebäusche in diese Schale des Glücks zu tauchen, weil sie Angst hatten, das Glück aufzubrauchen und deshalb
höchstens zu feierlichen Jahrestagen einen winzig kleinen Schluck zu trinken wagten.« Aber das, was wir so gut wie nicht ausgelebt haben, lockt noch immer, hätte ich gern gesagt.
Die beiden können diese Zeit nicht ungeschehen machen, nicht streichen, nicht umschreiben, nicht anders leben. Sie bleibt für immer – wie das Bild von Glühwürmchen
auf einem abendlichen Feld im Sommer, das einem sagt Statt dessen hättet ihr dies haben können . Aber sich zurückzuziehen, ist falsch. Voranzugehen ist
falsch. Wegsehen ist falsch. Alles Falsche bereinigen zu wollen ist letztlich nicht weniger falsch.
    Ihr Leben ist wie ein verstümmeltes Echo, das für alle Zeiten in einem versiegelten Mithräum begraben liegt. Schweigen.
    »Herrgott, wie sie uns beneidet haben an jenem ersten Abend in Rom, als wir beim Essen nebeneinander saßen«, sagte er schließlich. »Wie sie uns angestarrt haben,
die Jungen, die Alten, Männer, Frauen – alle an diesem einen Tisch, wie sie geglotzt haben, weil wir so glücklich waren.
    Und wenn wir noch älter geworden sind, werden wir von diesen jungen Männern sprechen wie von zwei Fremden, die wir im Zug kennengelernt haben, die wir bewundern und denen wir
weiterhelfen wollen. Und wir werden es Neid nennen, denn es Reue zu nennen würde uns das Herz brechen.«
    Wieder Schweigen.
    »Vielleicht bin ich noch nicht so weit, sie Fremde zu nennen«, sagte ich.
    »Wenn es dich beruhigt – ich glaube nicht, dass einer von uns je so weit kommen wird.«
    »Trinken wir noch eine Runde?«
    Er gab nach – bevor er auch nur einen matten Protest, er müsse nach Hause, vorbringen konnte.
    Wir erledigten die Präliminarien. Sein Leben, mein Leben, was er gemacht, was ich gemacht hatte, das Gute, das Schlechte. Welche Ziele er hatte, ich hatte. Meine Eltern sparten wir aus. Ich
nahm an, dass er Bescheid wusste. Dass er nicht fragte, bestätigte meine Vermutung.
    Eine Stunde.
    »Dein bester Moment?«, unterbrach er mich.
    Ich dachte kurz nach.
    »Der erste Abend ist der, an den ich mich am deutlichsten erinnere – vielleicht, weil ich mich so ungeschickt angestellt habe. Aber auch Rom. Es gibt auf der Via Santa Maria
dell’Anima eine Stelle, die ich jedes Mal aufsuche, wenn ich in Rom bin. Ich brauche nur eine Sekunde hinzuschauen, dann erinnere ich mich wieder. Ich bin sehr froh, dass jener Kuss noch
immer da ist. Es ist alles, was ich von dir habe. Das und dein Hemd.«
    Er wusste sofort, was ich meinte.
    »Und bei dir?«, fragte ich.
    »Auch Rom. Wie wir bis zum Morgengrauen auf der Piazza Navona gesungen haben.«
    Das war mir völlig entfallen. Mit dem neapolitanischen Lied war ja in jener Nacht noch nicht Schluss gewesen. Danach hatten ein paar junge Holländer die Gitarren herausgeholt und einen
Beatles-Song nach dem anderen gesungen, und alle, die am Hauptbrunnen herumsaßen, hatten eingestimmt, wir auch. Sogar Dante tauchte wieder auf und sang in seinem verkorksten Englisch mit.
»Haben sie uns ein Ständchen gebracht, oder bilde ich mir das nur ein?«
    Er sah mich verblüfft an. »Dir haben sie ein Ständchen gebracht, und du warst sturzbetrunken. Zum Schluss hast du dir eine
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