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Abgang ist allerwärts

Abgang ist allerwärts

Titel: Abgang ist allerwärts
Autoren: R Kuhnert
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I.
    D as ganze Dorf brannte. Die Flammen schlugen hoch über den zum Teil stark verwitterten Dächern der langgestreckten Backsteinhäuser zusammen. Zwischen den rasenden Feuern sah ich Leute hin und her hasten, aber nicht, um zu löschen. Entsetzt erkannte ich, dass sie Kanister in den Händen hielten, deren Inhalt sie an den Stellen ausschütteten, wo das Feuer zu verlöschen drohte, um es erneut anzufachen. Obwohl sie rußverschmierte Gesichter hatten, glaubte ich, einige von ihnen zu erkennen. Ich wollte ihnen zurufen einzuhalten, aber meine Kehle war wie zugeschnürt. Plötzlich zerriss der schwarz-graue Rauchvorhang an einigen Stellen und ich sah in der Mitte des Dorfes ein großes Gebäude, das alle anderen überragte und völlig unversehrt war. Ich erkannte es sofort wieder, es war das ehemalige gräfliche Schloss. Sofort ging mein Blick weiter bis ans Ende der Dorfstraße. Vielleicht war auch mein Haus von den Flammen verschont geblieben, aber dort, wo es gestanden hatte, war nur ein leerer Platz. Nichts erinnerte mehr daran, dass dort einmal ein Fachwerkhaus gestanden hatte. Ich spürte wie mir Tränen über das Gesicht liefen, die nicht nur vom beißenden Rauch stammten. Dann beherrschte mich nur noch ein Gedanke: Weg von diesem lodernden Inferno. Nur, da waren diese Menschen, die ich zu kennen glaubte, und die ich zurückhalten musste, weiter den Ort zu zerstören, der ihr Zuhause war. Zwischen den wabernden Rauchschwaden konnte ich aber niemanden mehr entdecken. Hatten auch sie den brennenden Häusern den Rücken gekehrt? Wieder wollte ich nach ihnen rufen und wieder versagte meine Stimme. Erschreckt stellte ich fest, dass die Flammen mich fast eingeschlossen hatten. Ich wollte in Richtung Schloss flüchten, aber meine Beine waren bleischwer, Panik überfiel mich. Da stürzte neben mir mit lautem Krachen der Giebel eines Hauses zusammen, und ich warf mich zur Seite, um von den brennenden Trümmern nicht getroffen zu werden, doch es war zu spät. Ich versuchte, noch um Hilfe zu rufen, aber aus meiner Kehle kamen nur unartikulierte Laute…
    Schweißgebadet schreckte ich aus dem Schlaf hoch. Mein Herz raste, als wäre ich immer noch auf der Flucht vor den Flammen. Für einen Moment saß ich regungslos auf meiner Bettkante. Ein Flügel meines Schlafzimmerfensters war durch einen Windstoß zugeschlagen.
    Noch immer etwas benommen, stand ich auf und schloss den Fensterriegel. Ich war sicher, dass es mein Dorf war, das da in diesem Albtraum in Flammen stand. Wollte es sich auf die Art wieder in Erinnerung bringen? Und warum hatten alle Bauernhäuser gebrannt und nur das Schloss war verschont geblieben? Georg Büchner ins Gegenteil verkehrt, dachte ich: Krieg den Hütten, Friede den Palästen. Und was hatte der leere Platz am Dorfende zu bedeuten? Vielleicht gab es mein Haus wirklich nicht mehr? Hatten sie nicht immer gesagt: Abgang ist allerwärts? Den ganzen Tag über ließ mich der Traum nicht zur Ruhe kommen. Bilder tauchten aus der Erinnerung auf, Bilder, die ich längst vergessen glaubte. Ich musste herausfinden, was aus dem Dorf und seinen Bewohnern geworden war. Vorgehabt hatte ich es schon einige Male, es aber immer wieder hinausgeschoben.
II.
    Z wei Tage später saß ich im Auto und fuhr in Richtung polnischer Grenze, zu dem Dorf, in dem ich in einem anderen Leben einmal ein Landhaus besessen hatte. Ich hatte mir angewöhnt, diese Formulierung zu benutzen, wenn ich über meine Zeit in der DDR sprach; die Zeit, bevor ich dem halben Land den Rücken gekehrt hatte, um jenseits der Mauer, im Westen, eine neue Biografie zu beginnen. Und jetzt war ich auf dem Weg zu meiner alten Biografie, auf einer Fahrt in die Vergangenheit. Nein, ich wusste, dass das nicht stimmte, denn was und wen ich auch immer dort antreffen würde, es wäre nicht mehr das Vergangene.
    Die Landschaft hatte sich in den vergangenen Jahrzehnten nicht sichtbar verändert. Nur die Autobahn: Es gab keine Schlaglöcher mehr und der gesamte Belag war nach neuestem Standard ersetzt worden.
    Am Rand standen noch immer große Holztafeln mit der Aufschrift: Verkehrsprojekt Deutsche Einheit. Einige waren mit den Jahren schon reichlich verwittert, so dass die Schriftzüge nur noch schwer zu erkennen waren.
    Meine Gefühle schwankten zwischen Neugier und Beklemmung, deshalb hatte ich mir vorgenommen, zuerst in den größeren Nachbarort zu fahren, um dort Gisbert zu treffen, der noch immer der Landarzt der Gegend war. Er würde mich vielleicht auf
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