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Ruf mich bei Deinem Namen

Ruf mich bei Deinem Namen

Titel: Ruf mich bei Deinem Namen
Autoren: Andre Aciman
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Augenblick schwiegen, war nur die Bestätigung. Wir hatten die
Sterne gefunden, du und ich. Und das wird einem nur einmal geschenkt.
    Im letzten Sommer kam er dann doch noch einmal zurück. Für eine Nacht auf dem Weg von Rom nach Mentone. Das Taxi, das über die baumgesäumte Auffahrt kam,
hielt mehr oder weniger da, wo es vor zwanzig Jahren gehalten hatte. Er sprang mit seinem Laptop, einer riesigen Sporttasche und einer großen, schön eingepackten Schachtel heraus,
offenbar ein Geschenk. »Für deine Mutter«, sagte er, als er meinen Blick bemerkte. »Sag ihr lieber, was drin ist«, sagte ich, als ich ihm half, seine Sachen in die
Diele zu bringen. »Sie ist so misstrauisch geworden.« Er verstand. Es machte ihn traurig.
    »Mein altes Zimmer?«, fragte ich.
    »Dein altes Zimmer«, bestätigte er, obgleich wir das schon vorab per E-Mail geregelt hatten.
    »Alles klar.«
    Ich hätte ihn nur ungern nach oben begleitet und war froh, dass Manfredi und Mafalda, die das Taxi hatten kommen hören, zur Begrüßung aus der Küche geschlurft kamen.
Ihre überschwenglichen Umarmungen und Küsse halfen mir ein wenig über meine Befangenheit hinweg. Wirbel und Aufregung durften, wenn es nach mir ging, gern die erste Stunde
überbrücken. Alles war recht, um uns nicht beim Kaffee Aug in Aug gegenübersitzen und schließlich das unvermeidliche »Zwanzig Jahre …« aussprechen zu
müssen.
    Stattdessen würden wir seine Sachen in der Diele stehen lassen und hoffen, dass Manfredi sie nach oben bringen würde, während Oliver und ich einen kurzen Rundgang durchs Haus
machten. »Du willst doch bestimmt alles sehen«, wollte ich sagen – den Garten, die Balustrade, den Blick aufs Meer. Wir würden bis hinter den Pool gehen und zurück
ins Wohnzimmer, wo an der Terrassentür noch der alte Flügel stand, und wenn wir in der Diele waren, würde sich herausstellen, dass seine Sachen tatsächlich schon oben waren. Er
sollte merken, dass sich seit seinem letzten Besuch nichts geändert hatte, dass die Peripherie zum Paradies noch da war, das Törchen zum Klippensteig immer
noch quietschte, dass die Welt genau so war, wie er sie verlassen hatte, nur ohne Vimini, Anchise und meinen Vater. Das sollte mein Willkommen sein. Andererseits wollte ich ihn aber auch
spüren lassen, dass es sinnlos war, etwas nachholen zu wollen. Wir hatten getrennt voneinander so viel gesehen, so viel erlebt, dass es keine gemeinsame Basis gab. Vielleicht wünschte ich
mir, dass er einen schmerzlichen Anflug von Verlust und Kummer empfand. Schließlich aber entschied ich mich für einen Kompromiss. Am einfachsten war es wohl ihm zu zeigen, dass ich
nichts vergessen hatte. Ich würde mit ihm zu dem Stück Land gehen, das immer noch so öd und leer dalag wie vor zwanzig Jahren. Ich hatte kaum davon angefangen, als er sagte:
»Da war ich schon.« Auch er hatte also nichts vergessen. »Vielleicht möchtest du lieber kurz bei der Bank vorbeischauen?« Er lachte. »Wetten, dass sie mein Konto
noch nicht geschlossen haben?« »Wenn die Zeit reicht und du Lust hast, steige ich mit dir auf den Campanile, du warst nie oben, stimmt’s?«
    »Zum Sterben schön …«
    Ich lächelte zurück. Er erinnerte sich noch an unseren Spitznamen für den Turm.
    Auf dem Patio mit Blick auf die blaue Weite vor uns trat ich beiseite, während er sich über die Balustrade lehnte.
    Da unten war sein Felsen, wo er nachts gesessen hatte, wo er und Vimini ganze Nachmittage verbracht hatten.
    »Sie wäre heute dreißig«, sagte er.
    »Ich weiß.«
    »Sie hat mir täglich geschrieben. Tagtäglich.«
    Ich erinnerte mich, wie sie Hand in Hand zum Strand hinuntergesprungen waren.
    »Eines Tages hat sie dann nicht mehr geschrieben, und ich wusste Bescheid. Ich habe noch alle ihre Briefe.«
    Ich sah ihn traurig an.
    »Deine auch«, setzte er beruhigend, allerdings auch ein wenig unbestimmt hinzu, weil er nicht wusste, ob ich das hören wollte.
    Jetzt war ich an der Reihe. »Deine habe ich auch. Und noch etwas, was ich dir vielleicht zeigen werde. Später.«
    Erinnerte er sich nicht an das Flatterhemd, oder war er zu bescheiden, zu vorsichtig, um sich anmerken zu lassen, was ich meinte? Er sah wieder in die Ferne.
    Es war ein idealer Tag. Keine Wolke, keine Welle, kein Windhauch. »Ich hatte vergessen, wie sehr ich diesen Ort geliebt habe. Aber genau so habe ich ihn in Erinnerung. Ein
Mittagsparadies.«
    Ich ließ ihn reden. Es war mir recht, wenn er in die Weite sah. Vielleicht
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