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Mädchen und der Leibarzt

Mädchen und der Leibarzt

Titel: Mädchen und der Leibarzt
Autoren: S Beerwald
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PROLOG
    Die Nebelschwaden des frühen Morgens verzogen sich und gaben den Blick auf eine kleine Stadt frei, in der eine junge Frau vor dem offenen Herdfeuer im Haus der Großmutter saß und das samtbezogene Notizbuch in ihren Händen betrachtete. Die Gerstensuppe war längst verkocht, während sie sorgfältig Seite um Seite herausriss und den Flammen übergab. Langsam und bedächtig, mit einem Lächeln der Verzweiflung.
    Die Luft war rußgeschwängert und machte Helena das Atmen schwer. Neben ihr stapelten sich schmutzige Tonschüsseln, Suppenhafen und ein Kupferkessel, der eigentlich mit Essig und Sand gereinigt werden müsste. Außerdem wartete noch ein Berg mit Kleidern und Schürzen darauf, gewaschen zu werden. Doch wozu war das noch wichtig? Mit einem Schlag war alles nebensächlich und sinnlos geworden. Sie hatte einen geliebten Menschen verloren, dessen Leben vielleicht zu retten gewesen wäre – hätte sie noch mehr über die vermaledeite Seuche gewusst.
    Helena klappte das Buch zu und strich über den abgegriffenen roten Samt. Es war das Wertvollste, was sie noch besaß. Es enthielt eine Widmung der Großmutter, und die anfangs leeren Seiten hatten sich nach und nach mit niedergeschriebenen Gedanken und Beobachtungen gefüllt.
    Oftmals saß sie in diesen Zeiten der Schwarzen Blattern
abends in ihrer kleinen Kammer und vertraute ihrem Buch die Geschichten von Menschen an, die ihre gesamte Familie durch die Seuche verloren hatten. Manchmal jedoch war die Grausamkeit des Schicksals nicht auszuhalten. Dann blieb das Papier die Nacht über unberührt, und erst im Morgengrauen notierte sie einzig die Namen der Verstorbenen und Hinterbliebenen, weil ihr für mehr die Worte fehlten.
    Sie schrieb, während die Flamme an einer Wachskerze nagte, die sie sich eigentlich nicht leisten konnte. Vielleicht hielt sie die Geschichten fest, weil auch sie einsam war. Vielleicht, weil sie wie viele andere ihre Eltern durch die Blattern verloren hatte. Vielleicht aber auch, weil sie zu den Menschen gehörte, denen die Seuche merkwürdigerweise nichts anhaben konnte.
    Helena riss eine weitere Seite aus dem Buch, warf sie ins Feuer und beobachtete, wie das Papier sich zusammenkräuselte und zu Asche zerfiel. Bei den nächsten Seiten hielt sie inne und überflog noch einmal die sauber geschriebenen Worte. Unzählige Worte als Versuch, den Zusammenhängen auf die Spur zu kommen. Namen und Geschichten von Menschen, die aus unerklärlichen Gründen nicht an der Seuche erkrankt waren.
    Auf einer Seite hatte sie die wenigen Namen derer notiert, die bereits als Kinder an einer milden Form der Blattern erkrankt waren und durch Gottes Gnade überlebt hatten; demzufolge waren sie vor der nunmehr grassierenden Seuche gefeit. Auf einer anderen Seite war eine Handvoll reicher Bürger aufgelistet, die es sich hatten leisten können, beim Bader eine milde Form zu kaufen, um ebenfalls geschützt zu sein.

    Dann gab es noch achtzehn Namen aus drei Familien, zudem der ihrer Großmutter, ihr eigener und der ihres Verlobten – Friedemar Roth. Davor und dahinter prangten dicke Fragezeichen. Warum widerstand ihr Körper der Krankheit?
    Helena hielt das Blatt über das Feuer, und die Flammen züngelten gierig danach. Das Papier verfärbte sich, bekam gelbe, braune und schwarze Ringe, bevor es sich langsam entzündete. Sie sah zu, wie ihre Schrift, ihre Worte nach und nach zerfielen, und hegte dabei die Hoffnung, damit auch ihre Erinnerung an die vergangenen Wochen zu zerstören, in denen sie zu wissen geglaubt hatte, warum weder ihre Großmutter noch ihr Verlobter noch sie selbst von der Seuche befallen wurden. Die Zusammenhänge waren so einfach wie einleuchtend gewesen. Helena hatte sich am Ziel geglaubt, sie dachte, sie hätte ein Mittel gegen die tödlichen Schwarzen Blattern entdeckt.
    Jetzt wurden auch diese Seiten ein Fraß des Feuers. Eine nach der anderen, bis nur noch ein Blatt übrig war. Unerbittlich fielen ihr die letzten beiden Namen ins Auge, die sie darauf notiert hatte. Friedemar und Helena . In großen dunklen Lettern standen sie da, zum zweiten Mal in diesem Buch. Wieder hatten sie beide die Seuche überlebt, doch die Großmutter lag aufgebahrt in der Stube, von Blattern übersät.
    Helena fröstelte, obwohl es in der Küche nicht besonders kalt war. Wärme suchend streckte sie ihre Hände aus, während ihr eine Träne über die Wange rollte.
    Wie hatte sie nur dem Irrglauben verfallen können, dass es ein Mittel gegen die Blattern
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