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Mädchen und der Leibarzt

Mädchen und der Leibarzt

Titel: Mädchen und der Leibarzt
Autoren: S Beerwald
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Großmutter weitergegeben hatte, kurz bevor sie von der Seuche dahingerafft worden war: Academische Abhandlung von der gar zu geschwinden und angenehmen, aber deswegen öfters unsicheren Heilung der Krankheiten. So der Titel von Dorothea Erxlebens Dissertation, für die sie sogar eine Auszeichnung erhalten hatte. Im Vorwort hatte sie ihre Hoffnung zum Ausdruck gebracht, eine Vielzahl von Frauenzimmern als Leserschaft zu gewinnen, darum hatte sie ihre Arbeit in nur einem Jahr vom Lateinischen ins Deutsche übertragen und für alle medizinischen Fachbegriffe eine allgemein verständliche Wortwahl gesucht. Die Seiten hatten Helena sofort in ihren Bann gezogen und den Ehrgeiz entfacht, all die Dinge über verschiedene Mittel zu verstehen, die den Urin, den Schweiß, den Auswurf, die monatliche Reinigung oder den Schlaf befördern.
    Bald nutzte Helena jeden freien Augenblick, um in diesem Buch zu lesen. Mit der Academischen Abhandlung in der Hand löffelte sie ihre Morgensuppe, ohne einen Blick auf den Teller zu verschwenden.
    Irgendwann hatte sich die Großmutter verpflichtet gesehen, ihre Enkelin in die Wirklichkeit zurückzuholen und
ihr klarzumachen, dass keine Weibsbilder an einer Universität geduldet wurden. Bereits ihrer Tochter hatte sie den Kopf zurechtrücken müssen, und auch Helena hatte sich ganz nach dem Vorbild ihrer viel zu früh verstorbenen Mutter in ihre frauliche Rolle gefügt. Sie tat es ohne zu murren, kam zuverlässig ihren Aufgaben nach und versuchte, als die Eltern nicht mehr lebten, sich und ihrer Großmutter ein angenehmes Heim zu schaffen.
    Aber die Zufriedenheit blieb aus. Helena kämpfte darum, einen Beruf ergreifen zu dürfen. Und sie erreichte ihr Ziel: Als Hebamme fand sie ihre Erfüllung. Die Arbeit machte sie glücklich, verschaffte ihr Bestätigung und letztlich auch ein bisschen Geld. Trotzdem fand ihre Seele keinen Frieden. Nach ein paar Lektionen bei Friedemars Ziehvater gipfelte ihre Unrast schließlich in dem Glauben, alleine und mit ihrem geringen Wissen etwas gegen die Blattern ausrichten zu können. Doch sie war eines Besseren belehrt worden.
    Helena musste von vorne anfangen, sie musste jeden, wirklich jeden Vorgang im menschlichen Körper verstehen lernen, und dazu musste sie Vorlesungen an der Universität hören.
    Plötzlich machte ihr Schimmel einen Satz zur Seite, Helena griff scharf nach den Zügeln und drückte die Beine eng an seinen Leib. Sie spürte die angespannten Muskeln, den starken Hals, die bebenden Flanken.
    Tatsächlich raschelte es ganz in der Nähe in einem Fuchsbau. Einigermaßen erleichtert klopfte sie ihrem Pferd den Hals. Wenn der Fuchs nicht vom Wahnsinn getrieben war, stellte er keine Gefahr für sie dar. Doch da hörte sie das Geräusch wieder, und neben einem der Höhleneingänge tauchte unversehens ein abgehärmt aussehender junger Mann
auf. Helena erschrak. Er trug eine zerschlissene Uniform, in seinen langen Haaren hatte sich Laub verfangen, und ein struppiger Bart umwucherte sein schmales Gesicht.
    Als er auf sie zukam, umklammerte Helena die Zügel. Doch er formte nur schüchtern seine Hände zu einer leeren Schale und streckte sie ihr langsam entgegen. Hunger und Not sprachen aus seinen fiebrig glänzenden Augen. Ein Deserteur.
    Befangen betrachtete Helena sein Gesicht; der Vagabund war nur wenig älter als sie selbst. Seine unsicheren Gesten verrieten ihr, dass er dieses Dasein noch nicht allzu lange führte.
    Mitleidig griff sie nach ihrer Satteltasche. Doch im gleichen Augenblick wurde ihr siedend heiß bewusst, dass sie selbst nichts bei sich hatte. Kein Brot, kein Geld – nur die Kleider, die sie am Leib trug. Verzweifelt suchte sie ihre Rocktaschen ab, wie jemand, dem soeben angesichts des wartenden Warenhändlers auffiel, dass die Geldbörse zu Hause lag. Sie zeigte ihm ihre leeren Hände und machte eine bedauernde Geste. Der Vagabund lächelte mitfühlend. Bevor er zwischen den Bäumen verschwand, winkte er ihr zum Abschied, wie einem alten Weggefährten.
    Langsam ritt Helena weiter. Wo könnte sie etwas zu essen herbekommen? Würde sie im Wald etwas Nahrhaftes finden? Pilze vielleicht? In Gedanken versunken langte Helena an einem kleinen Waldsee an. Ihr Pferd blieb stehen und senkte gierig sein Maul ins Wasser. Helena ließ sich heruntergleiten und hockte sich im Schneidersitz auf den sandigen Boden.
    Auf der Wasseroberfläche trieben ein paar golden verfärbte Herbstblätter. Wäre es noch Sommer gewesen, hätte
sie jetzt bestimmt
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