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Die Schlaflosen

Die Schlaflosen

Titel: Die Schlaflosen
Autoren: Ulrike Kolb
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On the road oder 16.10 Uhr
    Sie reißt die Augen auf, als könnte sie so die grafische Wirrnis auf der Straße, in die sie hineingleitet, unter ihre Kontrolle zwingen. Die weiße Linie teilt sich, strebt in spitzem Winkel auseinander, jagende helle Striche, als sie die am Lenkrad klebende Hand löst und mit der Fingerspitze Kontakt zur Brille sucht, um sie höher zu schieben. Aber das ist es nicht, es ist nicht die Brille, es ist etwas anderes, das dieses optische Durcheinander vor ihren Augen veranstaltet, ein Schauspiel, in dem sich der Wagen wie von selbst bewegt, guter alter Benz, wenigstens das, und so versucht sie, der Spur des vor ihr herfahrenden Lasters zu folgen, das ist ihr einziger Halt. Rechts eine Autoschlange, die in ihrem Blickwinkel entlangrast, sie ist eingezwängt zwischen der Leitplanke und der Schlange, unmöglich, jetzt anzuhalten, nirgends ein Ausweg, jedes Gefährt folgt dicht dem vorderen, sie greift mit der Rechten hinter die Rückenlehne und tastet auf dem rauen Boden nach ihrer Handtasche, auf der Suche nach dem Etui mit der Ersatzbrille, dabei hält sie den Blick auf das Nummernschild und die steile Rückwand des Lasters gerichtet, auf die Aufschrift HOLZ VON SCHOLZ. Endlich das weiche Leder, und sie zieht die Tasche nach vorn auf den Nebensitz, wühlt darin, während sie in äußerster Anstrengung den Blick auf die Straße und den Wagen vor sich heftet, auf die Leitplanke links, auf die Verkehrsschilder, die sie nur bei zugekniffenem linken Auge entziffern kann, auf die 40 in dem roten Kreis und auf den vor ihr tanzenden und sich jäh vermehrenden und in unzähligen Linien auseinanderstiebenden Mittelstreifen, auf die mächtigen Räder eines vorbeiziehenden Sattelschleppers und irgendwo aufleuchtende und wieder verlöschende rote Bremslichter, gefangen in diffusem Flackern, fingert sie das Etui auf und nimmt die Brille, das HOLZ VON SCHOLZ beruhigt sie in diesem Augenblick, vielleicht wegen der imperativen Wirkung der Großbuchstaben, darüber muss sie grinsen, während sie die Bügel aufklappt, einhändig, bedächtig, und bevor sie die eine Brille abnimmt und die andere aufsetzt, justiert sie ihren Blick, heftet ihn auf die Spur des Lasters und auf die feste, hohe, kantige Schrift, deren Konturen sich in dem Moment, da sie die nackten Augen weit aufreißt, in ein enormes, weiches, schummriges Etwas auflösen, bis das andere, leichtere Gestell auf ihrem Nasenrücken landet und durch die hell getönten Gläser wieder das HOLZ VON SCHOLZ auftaucht und die Linie des Mittelstreifens sich für einen Augenblick entwirrt, klar, richtungweisend, während sie das linke Auge schnell schließt und gleichzeitig das rechte aufhält und dabei das Brillengestell mit der Kuppe des kleinen Fingers hin und her schiebt, um zu testen, wie die Sicht am besten ist, aber als sie beide Augen wieder offen hat, verwirrt sich sogleich alles von neuem, und da jetzt beide Hände das Steuer umfassen, umklammern, nass geschwitzt, fällt ihr auf, wie verkrampft sie die Schultern hochgezogen hat, dabei die Stirn fast an der Windschutzscheibe, als könnte sie so besser sehen, immer das linke Auge zupressend, versucht sie jetzt, tief durchzuatmen, die Muskeln zwischen den Schultern zu entspannen, ein Befehl an das vegetative Nervensystem … aber jedes Mal, wenn sie es öffnet, was ständig unwillkürlich passiert, bäumen sich die Linien in der Straße sofort auf, verschlingen einander, jagen auf die Windschutzscheibe zu, sodass sie das Lid schnell wieder zukneift. Der Verkehrsfunk fällt ihr ein, sie fingert an der Radiotastatur, geht die Sender durch, hört denn diese Baustelle nie auf … Musik, Stimmen, Klavier, immer wieder dasselbe Klavier, aber kein Verkehrssender, nichts, verdammt nichts, sie bleibt bei dem Klavier, etwas Gleichmäßiges, Schumann oder so, und sie greift in das Fach unter der Radioleiste, findet das Phone, fährt mit dem Daumen über den glatten, sofort aufleuchtenden Touchscreen, wagt aber nicht, den Blick von der Straße zu nehmen, das Klavier ist jetzt schneller, eilig, irgendwie entspannend … es kommt ihr ewig vor, dass sie so in dieser Zwangsgefolgschaft rast, eine halbe oder ganze oder mehr als eine Stunde muss das schon sein. Sie schafft es, die gesuchte Nummer zu aktivieren, das Klingelzeichen am anderen Ende, aber nichts außer dem Anrufbeantworter, niemand, das ist
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