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Die Schlaflosen

Die Schlaflosen

Titel: Die Schlaflosen
Autoren: Ulrike Kolb
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gerne wieder zurückgenommen hätten, die dann aber in der Welt, im Gehör des anderen waren wie ein Bild im Internet, das niemals wieder gelöscht werden kann. Wenn du wüsstest, wie das aussieht! Aber selbst wenn ihm eine solche Peinlichkeit nicht unterlaufen sein sollte, allein zu wissen, von einer schweigsam in einem Sessel sitzenden Frau unbemerkt beäugt worden zu sein, ist ihm unbehaglich.
    Unschuldig, dieses Wort fällt ihm jetzt ein, und er fragt sich, wieso eigentlich? Wieso eigentlich unschuldig? Er tritt hinaus auf die Terrasse, atmet tief durch und versucht, den Gang durch den Speisesaal zu rekapitulieren, vom ersten Schritt an hinten bei der Parkseite, dann den Slalom zwischen den Tischen hindurch, den Weg zum Fenster, dann wie er das große Bild mit dem verlassenen Theatersaal in Augenschein genommen hat. Dabei überlegt er angestrengt, womit seine rechte Hand währenddessen beschäftigt war. Aber die Hand hat gemacht, was sie wollte, ohne seinem Gedächtnis Rechenschaft abzulegen, und er muss lachen, das ist ja wie eine Kleine-Jungen-Geschichte von früher. Er stellt sich vor, wie er eine solche Kette von Überlegungen seiner Frau mitteilen würde und wie sie sich beide darüber amüsieren. Das sind eigentlich die guten Momente unserer Ehe gewesen, denkt er und ruft sich zur Ordnung, sagt sich, wer immer dich wobei auch immer gesehen hat, geh jetzt am besten weg von hier, sofort, auf der Stelle. Eine wirre Abfolge von Gedanken oder besser Bildern oder doch Gedanken (als ob es einen Unterschied zwischen Gedanken und Bildern gäbe, du Esel!) flattert ihm durch den Sinn, nicht einzuordnen in die Rangliste von wichtig bis weniger wichtig oder völlig unwichtig. Und als er sich jetzt umdreht, gewappnet für eine Begrüßung, ist der Sessel, in dem soeben noch eine Frau saß, leer.
    War es vielleicht doch keine so gute Idee, hierherzukommen?
    Der Schlafpapst ist nicht der einzige Grund dafür, dieses Wochenende auf Sezkow zu verbringen. Schon lange hatte Rottmann sich vorgenommen, hier in die Gegend und zu diesem Haus zu fahren, in dem er als Kind einmal gewesen war, obwohl nicht alt genug, um sich wirklich daran erinnern zu können. Schon seit der Maueröffnung hatte er sich das vorgenommen, es aber immer wieder aufgeschoben. Auch weil das Retrogetue mancher Wiederentdecker des Preußentums ihn abstößt, so wie ihn überhaupt jede Nostalgie abstößt, ja, mehr als das. Es kotzt mich an, denkt er. Und als er neulich bei einem Abendessen neben jemandem saß, der von seiner Sehnsucht nach den Landschaften Ostpreußens sprach, und als dieser Jemand wiederholt betonte, diese seine Sehnsucht komme daher, dass er dort geboren worden sei und dass diese Landschaften sich seinem tiefsten Inneren eingeprägt hätten, weil er sie mit den ersten Atemzügen eingesogen habe, und als Rottmann erfuhr, dass der Mann nur zwei Monate dort gelebt hat, dachte er, wie sehr solche Sehnsüchte oft künstlich gehegt werden. Er fragte den Mann, ob man wirklich Sehnsucht nach einer Landschaft haben könne, die man so jung verlassen hat. Worauf der heftig die Meinung vertrat, so etwas komme öfter vor, als man denke, etwa wenn die Sehnsucht der Eltern sich in die Seele der Kinder gesenkt habe. Anders könne er sich diese wirklich starke Sehnsucht, die er empfinde, nicht erklären. Rottmann gab zu, dass sich dagegen nichts sagen lasse, und trotzdem meldete er seine Zweifel an, sagte sogar, er nehme ihm ein solch tiefes Verlangen nicht ganz ab, und ärgerte sich zugleich über die eigene Gereiztheit bei dem Gespräch. Jedenfalls ist er jetzt froh, dass von Nostalgie hier in dem Haus nichts zu spüren ist, in dem eher etwas Unentschiedenes die Atmosphäre bestimmt, etwas Provisorisches und Widersprüchliches. Also, sagt er zu sich, bist du in der »dir liebsten Stimmung deines Lebens«, wie seine Frau gern spottet, ganz da, wo du zu Hause bist: in schönster Ambivalenz.

Allmählich trudeln Gäste ein
    Allmählich trudeln die Gäste ein, parkende Autos füllen den Platz vor der Freitreppe, und inzwischen ist auch der Empfang besetzt. An der Rezeption, das heißt, hinter dem als Rezeption dienenden alten Schreibtisch, erledigt eine junge dunkelhäutige Frau das Einchecken der Gäste, wenn sie nicht gerade jemanden zu seinem Zimmer begleitet oder Fragen beantwortet. Etwa die, ob der Professor schon da sei oder ob schon
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