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Die Schlaflosen

Die Schlaflosen

Titel: Die Schlaflosen
Autoren: Ulrike Kolb
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Stimme hörtest, als du dachtest, das Herz bleibt dir stehen, du aber loslegtest und eine Rede hieltest und dich wundertest, dass du das bist. Und hinterher die Albträume, in denen du ohne Manuskript dastehst und dir die Stimme versagt? Diese Szenen, die ein Regisseur irgendwo über den Wolken sich für dich ausgedacht hat, die sich immer wieder abspielen, trotz der zwei Therapien und der vielen Gespräche mit Franz und Lynn. Aber genau das scheint es zu sein, was dich am Leben hält. Was immer noch stärker ist als der Wunsch, endlich im Wasser davonzutreiben für immer.
    Schon jetzt ist klar, man nimmt dich wieder nicht wahr. Kaum bist du hier, schon übersieht man dich. Du sitzt in einem Raum in einem breiten Sessel, dem einzigen, der hier steht, mitten vor der Terrassentür, aber man sieht dich nicht … da kommt einer daher und schaut sich alles genau an, jeden Tisch, jeden Gegenstand, das Bild an der Wand. Jedem Stuhl, jedem Vorhang, jeder Staubflocke schenkt er seine Aufmerksamkeit, sogar dem Kaugummi, den er in die Handfläche spuckt, bevor er ihn abschnippt … aber dich sieht er nicht. Du bist einmal wieder Luft, ein Nichts von einem Sesselinhalt, du könntest genauso gut nicht da sitzen … während der Mann da, so wie er sich bewegt, wie er seinen Rucksack schlenkert, wie er die eine Fußspitze nach innen dreht, nur damit sie der anderen im Weg ist, aussieht, als habe er es auf nichts anderes abgesehen als zu stolpern, nur damit man sich um ihn kümmert … dieser Typ ist einer, der sofort die Augen aller auf sich zieht, auf den man instinktiv zugeht, dem man sich vorstellt und dem man die Hand reicht … solche Leute stehen in einem Laden und werden immer zuerst bedient, ohne etwas dafür zu tun, während du darauf wetten kannst, dass die Verkäuferin dich übersieht. Selbst wenn du an der Reihe bist, richtet sie den Blick auf die neben dir stehende Person, und du musst dich mit hochgestrecktem Zeigefinger und einem Hallohier-bin-ich-Lächeln bemerkbar machen.
    Sollst du dir die Haare noch schnell färben? Zeit dazu wäre. Du siehst ziemlich verkommen aus, wenn du die Kappe abnimmst, lauter Grau im Scheitel.
    Ach, der Kerl aus dem Speisesaal, ich sehe es ihm an, ich hab da eine gute Nase, er ist einer von denen, die es nicht nötig haben, sich aufzuplustern, nein, bei ihm geht alles ganz anders. Er gehört zu den schwachen Helden, er ist einer, vor dem man sich sofort niederbeugen möchte, um ihm, wenn er gestolpert ist, den gelösten Schnürsenkel zuzubinden. Einer von denen, die etwas auf sich ziehen, das womöglich mit Liebe zu tun hat. Er löst etwas aus, das einen ganz verstört, diese Mischung aus Fürsorge und Erotik und zugleich einer Prise Protest.
    Jedenfalls ist dir ein guter Abgang gelungen, darin bist du Meisterin. Dich davonschleichen und nur eine Kuhle im Sesselpolster hinterlassen, das kannst du. Erstaunlich, wie sich so was das ganze Leben über wiederholt … mal ehrlich, wenn du was dazugelernt hast, dann ist es die Perfektionierung deiner Schrullen … damals während der Tanzstunde warst du schon so, als du an einen besonders ›netten Tisch‹ gesetzt wurdest, um ein paar ›besonders nette junge Leute‹ kennenzulernen, als du den ganzen Abend kein einziges Wort rausbrachtest, weil dir einfach nichts einfallen wollte, als du dem Jungen, der sich vor dir verbeugte, einen Korb gabst, nur weil du Angst hattest, etwas sagen zu müssen beim Tanzen, an diesem Abend, als du einfach irgendwann aufgestanden und nach Hause gegangen bist, ohne dich zu verabschieden, einfach so … als du plötzlich wusstest, dass du anders bist.
    Du hast nie dazugehört, auch als du Jahre später glaubtest, du könntest es schaffen, als du anfingst, zu unterrichten … am Ende kommen doch die alten Gefühle wieder zurück. Selbst als du die Chefin warst und Reden hieltest, standest du neben dir und hast dich gewundert, dass du das kannst, und während du dich über dich selbst gewundert hast, hast du plötzlich nicht mehr gewusst, was du sagen wolltest, und gestottert, Pardon!, jetzt hab ich den Faden verloren … Du Nixe, wie Franz sagte, du gehörst eben unter die Wasseroberfläche, denn wenn du auf die Erde kommst, bist du nie ganz da … man kann dich nicht fassen, du bist das Gegenteil von bodenständig … wo du herkommst, ist die Kunst der Nixen gefragt: abtauchen
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