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Die Schlaflosen

Die Schlaflosen

Titel: Die Schlaflosen
Autoren: Ulrike Kolb
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Absicht, fährt ihr durch den Sinn … diese halbe oder ganze oder mehr als eine Stunde, das Klavier jetzt sanft, melancholisch, sehnsüchtig, sie bricht bei immer noch zugekniffenem linken Auge in Tränen aus, und als sie an einer endlich auftauchenden Raststätte die Autobahn verlässt und erlöst haltmacht, blicken sie aus dem Rückspiegel, dem sie sich entgegenreckt, Augen an, die ihr uralt vorkommen, als wären es nicht ihre eigenen, umrandet von Schlieren schwarzer Schminke.

Rottmann kommt an
    Zwei Torpfosten, der linke von einem Steinlöwen gekrönt, dessen Kopf auf der einen Seite schräg abgeschlagen ist, was komisch und zugleich stolz aussieht, wie bei einem, der seine Beschädigungen mit Lächeln trägt, ja, der Löwe lächelt, und es sieht aus, als lächle er über die Anmaßung der Natur, über das freche Moos, das sich gräulich über seine lädierte Stelle gezogen hat, und über die Schläge, die ihm die Zeit oder Bomben oder wer weiß wer versetzt haben. Umkreist man ihn, kann man sehen, dass von dem Schweif nur noch ein Stummel übrig ist, ein lächerlicher Rest, der die vergangene Macht des Löwen aber nur umso grotesker hervorkehrt, wie er da thront in königlicher Resignation.
    Von dem, was auf dem anderen Torpfosten, dem rechten, einst war, ist nichts mehr zu sehen, er ist vollkommen von Efeu überwuchert. Zwischen den Pfosten ist kein Tor mehr, nur noch ein verrostetes Eisenscharnier deutet exklusive Vergangenheit an. Jetzt kann dort jeder eintreten. Tiefes Nachmittagslicht liegt über der Platanenallee, die in prächtigen Herbstfarben leuchtet und an deren Ende ein Gutshaus steht, dessen Fassade, man kann es von hier schon erkennen, in einem nur teilweise renovierten Zustand ist. An manchen Stellen ist der Putz abgebröckelt und lässt die rohe Backsteinwand frei. Eine einst feierliche, jetzt hilflos wirkende Freitreppe führt mittig zum Eingang. Auch sie ist noch nicht aufgefrischt, dafür aber sehen die Fenster alle neu aus. Sie verteilen sich weiß gerahmt und symmetrisch über die ganze Front, eine Mischung aus Romantik und Preußenstrenge.
    Rottmann überlegt, ob er zuerst einen Gang um das Haus machen oder besser gleich die Treppen hinaufsteigen soll, direkt in die Höhle des Löwen. Er ist immer noch voller Zweifel, ob es die richtige Entscheidung war, sich hier anzumelden. Und als er nun zögerlich vor einer geduckten Kellertür unterhalb der Freitreppe von einem Fuß auf den anderen tritt, wird ihm immer klarer, dass, wenn er jetzt nicht sofort das Haus betritt und sich den Empfangsritualen ausliefert, er bestimmt die Flucht antreten wird.
    In diesem Moment sieht er sich als achtjährigen Bub von hinten, dem ein Rucksack auf dem Rücken wippt und der eine von Sonne und Schatten wild flackernde Allee entlangrennt, so schnell, als ginge es um sein Leben. Diese Erinnerung überwältigt ihn, ihm ist ganz flau von der Wucht eines früheren Gefühls.
    Auch heute trägt er einen Rucksack bei sich, ein albernes Ding, wie er findet, das er seiner Frau zuliebe benutzt. Sie hat es ihm zu einem der letzten Geburtstage geschenkt, und er bringt es einfach nicht fertig, sie vor den Kopf zu stoßen. Der Rucksack des erwachsenen Rottmann ist allerdings nicht aus kakifarbenem schmutzigem Leinen wie der des Jungen, sondern aus weichem, teurem Leder, und es passt alles hinein, was er für ein, zwei Übernachtungen braucht. Er hält ihn schlenkernd an der Schlaufe und begibt sich so die Treppe hinauf. Bei jedem Schritt achtet er darauf, in die Mitte der Stufen zu treten, und auf einmal ist alles wieder da, der Geruch von Malzkaffee, von alten Hosen, alten Federbetten, altem Stall, alten Vorhängen, altem Holz, alten Schuhen, altem Zaumzeug, altem Heu, altem Papier, alten Büchern … ein sinnverwirrender Schwall von Vergangenheit.
    Die Tür ist unverschlossen. Einem Messingschild ist zu entnehmen, wo man sich befindet: Hotel Gut Sezkow. Es ist eine massive Holztür, die sich nicht ohne Widerstand öffnen lässt, bevor sie den Blick in ein geräumiges Entree freigibt, von dem aus sich eine breite Treppe nach rechts und links teilt. Ein alter Schreibtisch dient als Rezeption, er ist jedoch verwaist. Niemand scheint hier erwartet zu werden. Der ganze Empfang wirkt etwas provisorisch. Rottmann blickt um sich, und da er der Einzige hier zu sein scheint, macht er sich auf den Weg
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