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Markttreiben

Markttreiben

Titel: Markttreiben
Autoren: N Förg
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Prolog
    Die Atemlosigkeit des Denkens,
    auch auf den Gletscherwiesen,
    ohne Beweis.
    Langsam stieg er in diesem steilen Hang. Er hatte seinen Rhythmus
gefunden, und seine Atmung ging regelmäßig. Er liebte die Passagen, in denen er
einer Flanke seine Spur einbrannte, seine Zickzackspur, die bleiben würde, bis
die gleißende Sonne sie verwischt oder Neuschnee sie zugedeckt hätte. Spuren
auf Zeit. Lebenslinien auf Zeit. So vergänglich. Er war fast traurig, als er an
die Kante kam, wo es flacher wurde. Er musste die Bindung umstellen, er hatte
seinen Rhythmus verloren. Er mochte diese flachen Passagen nicht, die doch nur
einen langen Hatsch bedeuteten. Auch mochte er solche Stufen nicht. Er wäre
lieber weiter steil bergan gestiegen, auf der Direttissima. So lebte er auch.
Aber um den Gipfel zu erreichen, blieb ihm nur diese Route über lange Flachstücke,
über nervige Verzögerungen auf dem Weg zum Allerhöchsten. Der Schatten zog
herein, noch stand die Sonne zu tief; es war zu früh, um den ganzen Berg zu
erhellen. Endlich, das letzte Steilstück, er legte den Kopf in den Nacken. Er
lächelte. Zum ersten Mal seit Tagen lächelte er wieder. Zum ersten Mal, seit er
das Unglaubliche erfahren hatte. Er zog Harscheisen auf und trat an. Diese
letzte Passage war eigentlich viel anstrengender als alle vorhergegangenen
Teilstücke. Aber nun pendelte sich seine Atmung wieder ein, er ging fast
schwerelos und erreichte den Grat. Zog die Ski ab und stapfte in seinen
Tourenstiefeln zum Gipfel. Er war allein, die Gunst der frühen Stunde.
    Weiße Eisberge staken heraus aus einem Meer in Gebirgsblau. Es war
wirklich sehr früh, noch im Dunkeln war er losgegangen. Ein leiser Wind war
aufgekommen, er runzelte die Stirn. Es hatte viel geschneit in den letzten
Tagen, heute war der erste Tag, der in gleißendem Sonnenlicht erstehen würde.
Sie hatten ihn gestern noch gewarnt, seine Kumpels vom Alpenverein, weil sie
der Meinung waren, der Neuschnee würde sich nicht verbinden mit dem Untergrund.
Sie, seine sogenannten Freunde! Wenn sie wüssten, wären sie kaum mehr seine
Gefolgschaft. Schon jetzt hatte er genug Neider, aber er hatte sie bisher
mundtot machen können durch seine Leistung, durch sein sicheres Auftreten. Und
durch seine waghalsigen Aktionen.
    Er lachte kurz auf, das Leben war Risiko, seines war jeden Tag
Risiko, und da wollte er sich wegen einer Lawinenwarnstufe grämen! Er kannte
diesen Berg wie keinen anderen, sie hatten sich bekämpft, er hasste und liebte
ihn. Er hatte lange Jahre gebraucht, bis er so entspannt wie heute auf dem
Gipfel stehen konnte. Er war atemloser gewesen, seine Muskeln hatten sich
verkrampft. Aber er hatte viele Berge niedergerungen und seinen Körper. Heute
war er am Zenit seiner körperlichen Kraft. Und den Rest würde er auch schaffen.
Der Aufstieg hatte geholfen, hatte geholfen, den Kopf zu lüften, den ewigen
Kreislauf schlechter Gedanken zu durchbrechen. Er hatte sein Shirt gewechselt,
seinen Tee getrunken. Er zog die Eisen und die Felle ab, das war wie ein
Ritual, eine kultische Handlung. Sorgfältig verstaute er alles im Rucksack, und
dann kam der größte Moment. Er stieß sich ab. Der Schnee war bockig,
Bruchharsch, er war gezwungen, zu springen mit zwei Stöcken, aber auch so etwas
liebte er. Dann kam der Pulverschnee, watteweich, er musste gar nichts mehr
tun. Nur einen ersten Schwung setzte er, alle weiteren waren ein Resultat aus
diesem ersten. Sie geschahen einfach und schufen ein Kunstwerk. Ein perfektes
Zöpfchenmuster. In einem flacheren Stück schwang er ab, sah bergwärts, was für
eine Ebenmäßigkeit war das!
    Dann hörte er das Grollen. Es schwoll an, und da war sie auf einmal,
diese gewaltige Woge aus Schnee, die Riesenwelle, alle Macht der Berggötter
gegen ihn winziges Menschlein. Man bleibt niemals in einem Flachstück stehen,
dachte er noch und begann anzuschieben. Er kämpfte um jeden Meter. Er änderte
seine Richtung, versuchte dem fauchenden Monster über die Seitenflanke zu
entkommen. Immer noch atmete er normal. Das Grollen zerriss ihm fast das
Trommelfell, dann fühlte es sich an, als würde ihm einer in die Kniekehle
treten. Es wurde still. Sehr still. Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war.
Ein Gedanke ergriff ihn. Ein baumhoher Gedanke. Ein Gedanke, größer, als sein
Gehirn ihn ertragen konnte. Ein Gedanke, den er niemals zuvor gedacht hatte.
Aber jetzt, jetzt sprengte er fast seinen Kopf.

EINS
    Wie viel, o wie viel
    Welt. Wie viel
    Wege.
    »Ich kann
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